Videochats statt voller Wartezimmer
Wie die Corona-Krise die Telemedizin voranbringt
by Anja EngelkeArzttermine per Videokonferenz waren für viele Hessen unvorstellbar. Dann kam die Corona-Pandemie und plötzlich verlagerten sich viele Lebensbereiche ins Digitale. Auch das virtuelle Wartezimmer klingt heute nicht mehr nach Science Fiction.
"Als die Corona-Krise kam, standen wir schon in den Startlöchern", sagt Stefan Eisfeld. Seit Anfang März bietet der Hausarzt in Frankenberg (Eder) für seine Patienten auch eine digitale Sprechstunde an. Per Videokonferenz können ihm die Patienten ihre Symptome schildern und vermeiden so gerade in Corona-Zeiten den Weg ins volle Wartezimmer. 30 bis 50 seiner täglichen Visiten verlagerte Eisfeld ins Netz - gerade zu Beginn, als die Sorge vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus besonders groß gewesen sei.
Mit den Videosprechstunden wollte Eisfeld eigentlich schon Ende 2019 anfangen. Doch bis vor Kurzem hätten die digitalen Sprechstunden für ihn eine Menge rechtlicher Hürden bei geringen Einnahmen bedeutet. Zwar lockerte der Deutsche Ärztetag vor zwei Jahren das bis dahin geltende Fernbehandlungsverbot. Doch erst seit einer Gesetzesänderung im November vergangenen Jahres dürfen Ärzte auf ihrer Website über Onlinesprechstunden informieren und auch neue Patienten digital aufnehmen. Wegen der Corona-Pandemie dürfen sie derzeit unbegrenzt Videosprechstunden bei den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen. Zuvor durfte maximal jeder fünfte Patientenkontakt digital stattfinden.
Videosprechstunden mittlerweile in jeder fünften Praxis
Seitdem bieten in Hessen immer mehr Praxen eine Videosprechstunde an. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung waren es Ende März rund 1.300 Praxen - drei Viertel von ihnen hätten mit der digitalen Sprechstunde erst im selben Monat begonnen. Im April stieg die Zahl erneut auf nun 2.445 Praxen. Von den rund 12.000 niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten in Hessen verlagert inzwischen also jeder Fünfte einen Teil der Visiten ins Internet.
Die Videosprechstunde sei schneller und bequemer, sagt Hausarzt Stefan Eisfeld. Und sie biete während der Corona-Pandemie Sicherheit. In den besonders gefährdeten Seniorenheimen beispielsweise ließen sich für die Bewohner riskante Besuche zum Teil durch Videogespräche ersetzen. Noch nutzen die Online-Sprechstunde laut Eisfeld aber vor allem digital-affine Patienten. "Unser Ziel ist es, gerade die zu erreichen, die körperlich nicht so mobil sind." Doch die seien meist skeptisch.
Deutsche Patienten sind noch zögerlich
Mit Skepsis haben auch Dorota und Philipp Kisker zu kämpfen. Die Gynäkologin und der Kinderwunschmediziner aus Frankfurt bieten über ihr Portal "Doctor2go" bereits seit Dezember digitale Sprechstunden an - mit bislang mäßiger Resonanz. Anders als in Polen oder den USA nähmen die Patienten hierzulande Telemedizin nur zögerlich an, sagen die beiden Ärzte.
"In der Anfangszeit wurden unsere Sprechstunden fast zu hundert Prozent von ausländischen Patientinnen wahrgenommen." Gerade an fremdsprachigen Sprechstunden gebe es einen hohen Bedarf, denn für ausführliche Erklärungen oder gar Übersetzungen bleibe in den meisten Praxen keine Zeit. Zu Schwangerschaft, Kinderwunsch oder anderen komplexen Fragen der Gynäkologie beraten die Kiskers deshalb auch auf Englisch, Polnisch und Spanisch.
Während der Corona-Krise bieten sie eine Notfallsprechstunde für Schwangere an. Viele werdende Mütter fragten sich, welche Folgen die Krankheit für die Schwangerschaft haben könnte, sagt Dorota Kisker. Hauptberuflich arbeitet sie in einer Praxis in Frankfurt, ihr Mann in einem Kinderwunschzentrum in Offenbach. Die Videosprechstunde sei ein Zusatzangebot am Wochenende.
Beratung ja, Behandlung nein
Sie könne den persönlichen Arztbesuch nicht ersetzen. Aber sie sei auch unabhängig von Corona sinnvoll, um eine zweite Meinung einzuholen oder sich bei komplexen Themen wie Kinderwunsch oder bei Hormonstörungen beraten zu lassen. "So kann man unnötige Arztbesuche verhindern und man kann seriöse Informationen individualisiert vermitteln", sagt Philipp Kisker.
Ihre Online-Patientinnen können über die Website zehn- oder zwanzigminütige Arztgespräche buchen. Mit einer Raum-ID loggen sie sich in ein virtuelles Wartezimmer ein, bis die Ärzte sie aufrufen und den Videochat starten. Ist die Internetverbindung schlecht, haben die Patientinnen auch die Möglichkeit, ihre Fragen in ein Chatfenster einzutippen. Außerdem können sie Dokumente wie Befunde hochladen, um sie mit den beiden Gynäkologen zu besprechen.
Rezepte stellen die beiden Ärzte aber nicht aus. "Wir sind ja nicht in der Lage, die Patienten zu untersuchen. Und weil wir keine Versichertenkarten prüfen, können wir sie nicht einmal identifizieren. Das wäre zu riskant."
Mit Telemedizin gegen den Ärztemangel?
Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen (KVH) und der Hessische Apothekerverband haben dagegen kürzlich ein eigenes Pilotprojekt mit Videosprechstunden gestartet, in denen die Ärzte auch elektronische Rezepte ausstellen. Über den ärztlichen Bereitschaftsdienst unter der Rufnummer 116 117 haben Patienten seit Ende April die Möglichkeit, per Videochat mit Ärzten in Kontakt zu treten und - sofern sie bei AOK, DAK oder Techniker Krankenkasse versichert sind - auch direkt ein eRezept zu erhalten. Das lässt sich bislang aber nur bei bestimmten Apotheken im Rhein-Main-Gebiet einlösen.
Die Kassenärztliche Vereinigung sieht in der Telemedizin auch für die Zeit nach der Corona-Krise die Chance, dem Ärztemangel auf dem Land zu begegnen. Die ärztliche Versorgung in Hessen flächendeckend und langfristig zu sichern, sei nur über den Ausbau der Telemedizin realistisch, sagte der Vorstandsvorsitzende Frank Dastych laut einer Mitteilung.
Durch Corona komme die Videosprechstunde bei den deutschen Patientinnen mehr und mehr ins Bewusstsein, bestätigen die Kiskers. Die Ärzte erhoffen sich durch die Pandemie mehr Akzeptanz für die Telemedizin. "Dass die Leute immer noch Rezepten und Überweisungen auf Papier hinterherlaufen müssen, ist längst nicht mehr zeitgemäß", sagt auch Hausarzt Stefan Eisfeld. "Das wird sich hoffentlich bald ändern."
Große Datenschutz-Bedenken
Laut einer aktuellen Auswertung des Frankfurter Beratungsunternehmens PwC können sich Dreiviertel von 1.000 Befragten zumindest vorstellen, elektronische Rezepte zu nutzen. Mehr als die Hälfte der Befragten ist offen gegenüber Videosprechstunden. Aber die Auswertung zeigt auch: Die Bedenken beim Datenschutz sind groß. Vier von fünf Befragten fürchten, dass durch die Telemedizin sensible Daten ungefragt an kommerzielle Anbieter weitergegeben werden könnten.
„Die fehlenden Untersuchungsmöglichkeiten lassen sich durch Erfahrung ausgleichen und dadurch, dass ich meine Patienten gut kenne.“Stefan Eisfeld
Dabei müssen Ärzte in Deutschland eine Menge datenschutzrechtlicher Vorgaben erfüllen, wenn sie Videosprechstunden anbieten wollen. Dazu gehört beispielsweise, dass die Verbindung Ende-zu-Ende-verschlüsselt sein muss und die Software-Anbieter die Inhalte weder einsehen noch speichern dürfen. Vor der Gründung von "Doctor2go" hätten sie sich ausführlich von Rechtsanwälten beraten lassen, sagt Philipp Kisker. Das sei die größte Hürde gewesen.
Damit die Krankenkassen die Kosten für Videosprechstunden übernehmen, müssen Ärzte außerdem einen zertifizierten Softwareanbieter nutzen. Die Kosten von Beratung ohne Behandlung, wie die Kiskers sie anbieten, übernehmen die Krankenkassen generell nicht. Sie berechnen ihren Patienten deshalb für ein digitales Gespräch zwischen 20 und 46 Euro.
"Dem medizinischen Anspruch nicht gerecht"
Kritik an der Telemedizin äußert seit Jahren die Freie Ärzteschaft, in der bundesweit rund 2.000 Ärzte organisiert sind. In der Corona-Pandemie werde deutlich, dass Onlinesprechstunden keine Alternativen zur Behandlung, sondern lediglich ein Behelf für besondere Situationen seien, sagt der Vorsitzende Wieland Dietrich. Letztlich könne der Arzt in einer Videosprechstunde nur beraten, körperliche Untersuchungen wie Blutabnahmen oder Abstriche seien nicht möglich.
"Die Videosprechstunde wird dem medizinischen Anspruch eigentlich nicht gerecht", räumt Hausarzt Stefan Eisfeld ein. Grenzen gebe es immer dann, wenn der persönliche Eindruck wichtig sei. "Aber ich kann die fehlenden Untersuchungsmöglichkeiten durch Erfahrung ausgleichen und dadurch, dass ich viele meiner Patienten gut kenne. Das hätte ich früher nicht für möglich gehalten."