Mehr als 40.000 Tote: Der britischen Regierung um Boris Johnson wird vorgeworfen, zu spät auf die Corona-Pandemie reagiert zu haben. Während Johnson weitere Lockerungen plant, wird die Kritik lauter.

Quelle: WELT

Ohne Tumulte macht das britische Parlament nur halb so viel Spaß

Normalerweise gleicht das Unterhaus in London einem Hexenkessel. Aber wegen Corona dürfen derzeit nur 50 Abgeordnete auf die grünen Bänke. Der Rest ist zugeschaltet – das führt teilweise zu abstrusen Situationen.

Die Pandemie stellt Westminster vor große Herausforderungen: Das britische Parlament ist geprägt von seiner Debattenkultur, dem Verzicht auf Technik und von oft jahrhundertealten Konventionen und Präzedenzfällen. Dies wurde im vergangenen Jahr deutlich, als man sich im Brexit-Drama teilweise auf obskure Entscheidungen aus dem 17. Jahrhundert berief. Der bröckelnde Palace of Westminster bietet nicht die räumlichen Möglichkeiten für Social Distancing, und die betagten Mitglieder des Oberhauses (House of Lords) gehören größtenteils zur Risikogruppe.

Das Parlament in die Zwangspause zu schicken, kam allerdings nicht infrage: Viele Gesetzesentwürfe müssen dringend durch das Parlament, auch der Brexit steht weiterhin auf der Agenda. So sorgten Mitarbeiter des Parlaments in einem Kraftakt und wochenlanger Vorbereitung dafür, dass Abgeordnete weiterhin ihr Mandat und das Parlament seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung ausüben können.

Den Abgeordneten wurden jeweils etwa 11.500 Euro als Soforthilfe zur Verfügung gestellt, um Büros technisch aufzurüsten. Eine Labour-Abgeordnete lieferte ungewollt den Beweis für ihren Vorwurf an die Regierung, den Ausbau des Breitbandinternets vernachlässigt zu haben, als ihre eigene Verbindung mehrfach abbrach.

Im Sitzungssaal des Unterhauses (House of Commons) wurden Bildschirme aufgestellt und die grünen Bänke mit grünen Häkchen und roten Verbotskreisen gekennzeichnet. Ein Abgeordneter ätzte daraufhin, man werde wie ein Kind behandelt. Wer im letzten Jahr die Brexit-Debatten oder wöchentlichen Prime Minister’s Questions (PMQs) gesehen hat, erinnert sich an tumultartige Szenen im überfüllten Unterhaus. Dessen Sitzungssaal hat auch in normalen Zeiten nicht genügend Platz für die 650 Abgeordneten und gleicht während PMQs oft einem Hexenkessel. Bilder von dicht gedrängt sitzenden Politikern im März, als man die Bevölkerung längst bat, Abstand zu halten, sorgten für Kritik.

Maximal 50 Personen dürfen nun gleichzeitig in den Sitzungssaal. Anwesend sind neben dem Parlamentspräsidenten (Speaker) der jeweilige Minister und Schattenminister der Opposition, die sich wie sonst am Pult gegenüberstehen. Darüber hinaus kommen die politischen Sekretäre der Regierungsvertreter und die sogenannten Whips (wörtlich: Peitsche), Parteivertreter, die für die Fraktionsdisziplin zuständig sind.

Alle anderen Abgeordneten – maximal 120 pro Sitzung – werden per Zoom zugeschaltet und erscheinen während ihrer Wortmeldung auf den Bildschirmen. Auch der Fraktionschef der schottischen SNP in Westminster wettert nun von seinem Wohnzimmer in den schottischen Highlands gegen die Regierung.

Anstelle von sonst üblichen spontanen Wortmeldungen gilt nun eine vorher festgelegte Sprecherliste. Wer sich im Sitzungssaal befindet, hat keinen Vorteil und wird nur dann aufgerufen, wenn er oder sie an der Reihe ist. Dazwischen heißt es vom Speaker „Wir schalten jetzt zu …“, und der oder die nächste Abgeordnete wird zugeschaltet, was etwas an den Eurovision-Songcontest erinnert. Wenn jemand vergisst, das Mikrofon einzuschalten, wird sofort weitergezoomt.

Statt Hexenkessel-Stimmung herrscht bei PMQs nun Ruhe im Sitzungssaal – kein Wedeln mit Papieren, kein „hear, hear“ oder andere „Bauernhofgeräusche“. Es stehen sich nur die beiden „Kontrahenten“ Boris Johnson und der neue Labour-Parteichef und Oppositionsführer Keir Starmer gegenüber, auf den Bänken verteilen sich ein paar weitere Abgeordnete. Karen Bradley, Vorsitzende des Ausschusses für Parlamentarische Abläufe, berichtete von einer „völlig veränderten Atmosphäre“. Ohne den üblichen Trubel wirke Westminster nun fast gespenstisch.

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"Völlig veränderte Atmosphäre": Boris Johnson (r.u.) vor fast leeren Reihen im Parlament

Quelle: AFP

Für Luke Evans, erst im Dezember gewählt, sei es schwierig, „den richtigen Ton zu finden“, besonders wenn man dabei nur in eine Webcam schaue. Den Ton ganz auszuschalten verpasste der Gesundheitsminister der walisischen Regierung, als er sich in Cardiff schimpfend über eine Parteikollegin aufregte und die dortige Parlamentspräsidentin ihn vergeblich aufforderte, sein Mikrofon auszuschalten.

Natürlich bleiben auch britische Abgeordnete von den Fallstricken, die alle Welt derzeit bei Videokonferenzen erlebt, nicht verschont. Die halbe Nation diskutierte bald über Bücherregale, abstrakte Kunstwerke oder fragwürdige Gardinen hinter den zugeschalteten Abgeordneten. Die Labour-Abgeordnete Stephanie Peacock („Pfau“) präsentierte sogar eine passende Tapete mit den schillernden Vögeln. Bei Lord Campbell saß die Ehefrau wachsam im Hintergrund, auch die eine oder andere Katze hatte schon ihren Auftritt. Ein für seine exzentrische Frisur bekannter Abgeordneter ließ auf Twitter über sein Outfit für die erste Sitzung abstimmen – als „pinke Shorts“ gewann, wies der Speaker öffentlich darauf hin, dass auch virtuell der gleiche formelle „Dresscode“ gelte wie im Parlament. Gesundheitsminister Matt Hancock sorgte für Gelächter, als er sich auf die Frage zur Arbeit seines Ministeriums erlaubte, den zugeschalteten Abgeordneten nach dessen Friseur zu fragen.

Offline und ausgeschlossen

Kontroverse Abstimmungen zu Gesetzesentwürfen wurden lange vermieden, weil elektronische Alternativen für die Namensabstimmungen (divisions), bei denen Abgeordnete durch eine der beiden Abstimmungsgänge laufen und sich auf einer Namensliste abhaken lassen, erst entwickelt werden mussten. Mittlerweile haben auch die ersten elektronischen Abstimmungen stattgefunden, und viele Abgeordnete begrüßen die neue „Planbarkeit“ des parlamentarischen Ablaufs.

Der konservative Parlamentsführer (Leader of the House) erklärte nun allerdings, die Abgeordneten sollen ab Juni wieder nach Westminster kommen. Fraglich ist, wie dies bei Einhaltung der Abstandsregeln und eingeschränkter Reisemöglichkeiten funktionieren soll. Viele Abgeordnete reagierten empört, die Opposition wirft der Regierung eine politisch motivierte Entscheidung vor. Sie befürchten, offline vom parlamentarischen Prozess ausgeschlossen zu sein.

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Anja Richter leitet das Büro der Hanns-Seidel-Stiftung in London

Quelle: Hanns Seidel Foundation