Hundert Jahre Österreich

Am 4. Juni 1920 musste Ungarn den Vertrag von Trianon unterzeichnen. Wie alle Pariser Vorortverträge verdiente auch dieser den Namen nicht – er war, wie der von Versailles auch, ein teils rachsüchtiges, jedenfalls kurzsichtiges Diktat der nur unter sich verhandelnden Siegermächte des Ersten Weltkriegs. Erst seit Trianon stehen auch die Grenzen Österreichs, so wie wir sie heute kennen, fest. Der Grund ist Westungarn, das heutige Burgenland, das eben vor hundert Jahren Österreich zugeschlagen wurde.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zerbrach die weitläufige, von vielen Völkern bewohnte und zunehmend notdürftig zusammengehaltene Donaumonarchie – «eine der katastrophalsten Humorlosigkeiten der Weltgeschichte», wie es der Autor Friedrich Torberg sagte. Immerhin, der Stammsitz der altehrwürdigen Dynastie der Habsburger steht immer noch, freilich seit Langem quasi im friedvollen eidgenössischen Exil, im Aargau.

Nach dem Zusammenbruch hatte sich im alten Kernland zunächst die Republik Deutsch-Österreich konstituiert, die auch alle deutschen Sprachgebiete in Böhmen und Mähren für sich beanspruchte; später, zu Zeiten der Hitlerei, erhielt der Begriff Sudetenland dafür traurige Berühmtheit. Selbstredend sollte ganz Tirol zur neuen Republik zählen. Doch das kurzlebige Deutsch-Österreich hatte die Rechnung ohne die Entente gemacht. Im Friedensdiktat von Saint-Germain wurden die Lande der Monarchie aufgespalten und neu zugeteilt; es entstanden die Tschechoslowakei und Jugoslawien (es gibt sie nicht mehr – keine diplomatischen Erfolge).

Der kümmerliche Rest

«Et ce qui reste, c’est l’Autriche», soll der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau seinerzeit gesagt haben. Nicht mal das: Für die Besiegten galt das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das der amerikanische Präsident Woodrow Wilson stipuliert hatte, nicht, weder für die deutschsprachigen Österreicher noch für die Magyaren, die zweite Titularnation in der Doppelmonarchie. Italien erhielt Tirol bis zum Brenner zugesprochen. Das stand im krassen Widerspruch zur Zusammensetzung und zu den Wünschen der Bevölkerung Südtirols. Doch die Grenze am Alpenkamm war die Beute, die Grossbritannien, Frankreich und das Zarenreich Italien für dessen Kriegseintritt 1915 verheissen hatten.

Um die Gefahr abzuwenden, unter Roms Regiment gezwungen zu werden, hatten in der Übergangszeit nach dem Krieg Tiroler Würdenträger in Bern ein Verbindungsbüro eröffnet; dieses bearbeitete Diplomaten und Journalisten. Vorgeschlagen wurden als Auswege etwa die Einrichtung einer neutralen Republik Tirol oder einer eigenständigen Grafschaft unter dem arbeitslosen Kaiser Karl, allenfalls unter der Oberhoheit des Kirchenstaats. Doch der wurde von den Siegern nicht konsultiert. Die unterdessen charmant wirkende Verbindung von Tiroler Bergler-Solidität mit lässiger Italianità in Bozen, Brixen und Meran ist ursprünglich die Folge blanker Machtwillkür. Realpolitik trägt mitunter eine hässliche Fratze.

«Ce qui reste» hätte sogar noch kümmerlicher werden können. In einer Volksabstimmung im Mai 1919 sprachen sich vier von fünf Vorarlbergern für den Anschluss an die Schweiz aus. Doch der Bundesrat zeigte, weise, kein Interesse; die sprachliche und konfessionelle Balance in der Eidgenossenschaft wäre zu empfindlich gestört worden. Vorarlbergische Gegner der helvetischen Option, die ihre Zukunft eher in Deutschland sahen, verspotteten die Idee des «Kanton Übrig».

Die Bestimmungen von Saint-Germain traten im Juli 1920 in Kraft; das «Deutsch» fiel weg, die Republik Österreich, die so keiner wirklich haben wollte und deren wirtschaftliche Lebensfähigkeit nicht ohne Grund bezweifelt wurde – die alten Märkte waren nun Ausland –, durfte sich nicht mit der Weimarer Republik vereinigen. Im März 1938 jedoch führte der gebürtige Oberösterreicher Hitler seine alte Heimat heim ins Deutsche Reich. Auch er verhielt sich gegenüber Südtirol realpolitisch, aus Rücksicht auf seinen Spiessgesellen Mussolini. Der «Duce» arrangierte im Oktober darauf das Münchner Abkommen mit Grossbritannien und Frankreich, das dem «Führer» freie Hand liess, auch noch das Sudetenland zu erlösen.

Zurück zur ersten österreichischen Republik. Nach all den Verlusten erhielt der junge Kleinstaat – Grösse und Glanz des Reichs waren dahin – im Osten einen Gebietsstreifen zugesprochen, das vormalige Deutsch-Westungarn; Budapest musste in Trianon darauf verzichten. Das Gebiet setzte sich aus den westlichen Teilen der vier Komitate Pressburg (Bratislava/Pozsony), Wieselburg (Moson), Ödenburg (Sopron) und Eisenburg (Vasvár) zusammen, woraus der Namen Burgenland kondensiert wurde. Keine dieser Städte auf -burg gehört jedoch dazu; das ursprünglich als Regierungssitz vorgesehene Ödenburg entschied sich in einer umstrittenen Volksabstimmung 1921 für Ungarn.

Auch die Festlegung der Ostgrenze Österreichs folgte keineswegs den ebenso hehren wie selektiv angewandten Grundsätzen des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Vielmehr hatten die Westmächte zunächst ein Interesse daran, die Anfang 1919 entstandene (kurzlebige) ungarische Räterepublik unter dem Kommunisten Béla Kun zu isolieren. Der rote Terror liess vielen Bewohnern Westungarns den Anschluss an Österreich als ratsam erscheinen, obwohl sich selbst die deutschsprachige Mehrheit in dieser Gegend keineswegs besonders nach Wien (und schon gar nicht nach dem entlegenen Berlin) sehnte oder des altvertrauten Status als Minderheit in Ungarn überdrüssig gewesen wäre.

Der grosse Schriftsteller Joseph Roth («Radetzkymarsch») war in diesen Zwischenjahren auf Reportage im Niemandsland um den Neusiedlersee. Er fragte Dutzende Bauern, ob sie sich denn als Deutsche fühlten. Wie Roth berichtet, sagten die einen entschieden: «Na, mir san Ungarn», die anderen zaghaft und nach langem Grübeln: «Ja, mir reden deutsch».

Zweite Republik funktioniert

So nahm Österreich vor hundert Jahren seine gültige Gestalt an. Der Name «Ostarrichi» freilich findet sich schon auf einer Urkunde von 996, ist also seit über tausend Jahren gebräuchlich. Während Hitlers (nicht ganz) «Tausendjährigem Reich» wurde das ehrwürdige Österreich zur Ostmark germanisiert, wie es überhaupt alles, was nach Austria klang, zu exorzieren galt. Der Norden des jungen Burgenlands kam übrigens an den Reichsgau Niederdonau, der Süden an den Reichsgau Steiermark.

1945 auferstand Österreich aus Ruinen, 1955 zogen die Alliierten ab. Südtirol geniesst seit 1972 ein weitgehendes Autonomiestatut. «Ce qui reste» ist mit sich im Reinen – und der Österreicher unterscheidet sich vom Deutschen durch die gemeinsame Sprache, sagt ein Bonmot.