Lebenswichtige Medikamente gingen aus: Pauls Odyssee auf dem Mittelmeer

Aufgrund der Corona-Pandemie strandeten weltweit Touristen in ihren Urlaubsdestinationen. Auch Paul war einer von ihnen. Er sass jedoch auf keiner Insel fest, sondern auf dem russischen Dreimaster "Shtandart". Seine Odyssee auf dem Mittelmeer dauerte anstatt zwei ganze sechs Wochen. Sein ursprünglicher Rückflug und auch die Ersatzflüge wurden gecancelt, erst am 10. April konnte er von Barcelona nach Hause fliegen.

"Dies sollte meine bereits dritte Fahrt mit der "Shtandart" werden, denn von diesem wunderbaren russischen Dreimaster bekommt man einfach nicht genug. Es handelt sich um den jetzt 20 Jahre alten Nachbau des ersten Kriegsschiffes, das Zar Peter der Grosse vor etwa 300 Jahren bauen liess, nachdem er persönlich unter falschem Namen in Holland das Handwerk des Schiffszimmermanns erlernt hatte.

Die Ähnlichkeit endet allerdings unter Deck: dort gibt es Betten, Toiletten mit Duschmöglichkeit, sowie Waschmaschine und Trockner. Ausserdem sind zwei Diesel eingebaut, die das Schiff bei Flaute und im Hafen antreiben.

Auf der "Shtandart" kann jeder (auch ohne Vorkenntnisse) als "Matrose" mitfahren, das heisst, man muss Geld bezahlen und arbeiten: man wird in eine der drei Wachen eingeteilt und hat vor allem bei Manövern Seile zu ziehen, aber auch Toiletten zu putzen, Essen vorzubereiten, Geschirr zu spülen oder das Schiff zu steuern. Belohnt wird man durch den Riesenspass, den man als Besatzungsmitglied hat - und ausserdem sieht man etwas von der Welt.

Dies war auch der Hauptgrund, warum ich schon im Herbst diese Fahrt und die erforderlichen Flüge gebucht hatte: auf dem Weg von Neapel nach Malta sollten auch die Vulkaninseln nördlich von Sizilien besucht werden – die wollte ich schon längst mal besichtigen.

Auf den letzten Drücker noch nach Italien

Der Starttermin rückte näher, und ebenso das Virus. Es wurde spannend und ziemlich knapp, aber es klappte: am 29. Februar konnte ich problemlos nach Neapel fliegen und mit Bus und Bahn zum Hafen fahren, während aus Mailand schon katastrophale Meldungen kamen.

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Die „Shtandart“ vor dem italienischen Vulkan Vesuv.© privat

Aber kaum an Bord, änderte sich die Situation. Der Kapitän eröffnete uns, dass wir unsere Pläne ändern müssten, denn in jedem italienischen Hafen, den wir anlaufen würden, kämen wir in Quarantäne.

Also nichts mit Vulkanen, nichts mit romantischen sizilianischen Häfen. Stattdessen schlug er vor, nach Griechenland zu segeln, weil es dort noch "normal" zuginge. Dieser Vorschlag fand bei einer Abstimmung die Mehrheit hinter sich. So bestaunten wir in der Nacht nur von ferne die glühenden Lavaströme des Stromboli, passierten die Strasse von Messina und segelten dann nach Nordosten. Unser einziger Kontakt war ein Fischerboot, bei dem wir Wodka gegen einen Teil des Fangs eintauschten. Am 5. März erreichten wir die Insel Korfu. Dort war von Corona tatsächlich noch keine Rede, Sightseeing war genauso völlig normal möglich wie Einkaufen.

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Prächtige orthodoxe Prozession auf Korfu.© privat

Nachdem wir am 8. März noch den Anblick einer prächtigen orthodoxen Prozession in der Nähe des Hafens genossen hatten, nahmen wir Kurs auf Malta, das wir am 12. März erreichten. Kaum in Landnähe, nutzte ich die Internetverbindung, um meinen morgigen Flug nach Nürnberg zu überprüfen. Er war gecancelt – das Virus hatte mich eingeholt! Ich prüfte die Möglichkeit, nach Köln umzubuchen, aber auch dieser Flug würde nicht mehr stattfinden. Weitere Alternativen brauchten mehr Zeit, also erst mal wieder an die Arbeit: Segel reffen, Fender ausbringen, Taue bereit legen, Beiboot ins Wasser bringen.

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Salutschuss in Valetta aus einer der Kanonen.© privat

Die Gebäude von Valletta warfen ein beeindruckendes, vielfaches Echo zurück, als wir hinter der Hafeneinfahrt einen Salutschuss aus einer unserer Kanonen abfeuerten. Später untersuchte ich meine Möglichkeiten. Ein paar Tage später gab es noch Flüge nach Dänemark und nach Belgien. Ich wählte Brüssel und buchte ein Hotel in der Nähe, denn der Flug würde erst stattfinden, nachdem die "Shtandart" schon wieder abgelegt hatte. Ansonsten schien das Leben in Malta noch normal zu sein ausser dass in der Nähe des Fährhafens sehr viele Menschen mit Gesichtsmaske zu sehen waren.

Als ich am Abend meiner letzten Nacht an Bord von einem längeren Spaziergang zurück kam, hatte sich die Situation völlig geändert: der Kapitän hatte eine Nachricht bekommen, dass unter Androhung von Geldstrafen niemand mehr das Schiff verlassen dürfe, ausser er ginge zwei Wochen in Quarantäne. Ausserdem war auch mein Flug nach Brüssel gecancelt.

Was sollte ich jetzt tun? Zwei Wochen im Hotelzimmer verbringen? Eine grauenhafte Vorstellung. Ausserdem war mein Erlebnishunger durch den einen Hafen in Griechenland noch lange nicht gedeckt. Ich beschloss kurzerhand, an Bord zu bleiben. Dem Kapitän war das recht, da mehrere Besatzungsmitglieder das Schiff plangemäss verlassen hatten, während andere, die hier an Bord kommen wollten, wegen gecancelter Flüge hatten zu Hause bleiben müssen.

Die Situation spitzt sich zu

Kurz darauf fiel mir ein, dass ich ein Riesenproblem hatte: die Medikamente, die ich wegen einer chronischen Krankheit regelmässig einnehmen muss, gingen zur Neige, denn ich hatte nicht genügend für eine längere Reise mitgenommen. Ich stellte fest, dass mein Vorrat noch für fünf Tage reichen würde, und besprach die Sache mit dem Kapitän. Es meinte, bis dahin wären wir wieder an Land.

Zum Glück hatten wir gerade eine grosse Menge Lebensmittel eingekauft, sodass wirklich niemand mehr das Schiff verlassen musste. Ein Tankwagen brachte noch Trinkwasser, dann legten wir ab.

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Die „Shtandart“ in der Piratenbucht.© privat

Zuerst segelten wir zu der maltesischen Insel Gozo und besuchten die felsige Bucht "Dwejra Bay", die schon als Spielfilmkulisse gedient hatte. Von dort aus ging die Reise an Pantellerìa vorbei direkt nach Sardinien, wo wir natürlich auch nicht an Land gingen, sondern zwei Nächte vor Anker lagen.

Dort nutzte ich das Internet, um meinen Medikamentenkauf zu organisieren. Inzwischen war beschlossen, dass wir nach Menorca segeln würden. Sehr schnell stiess ich auf ein Krankenhaus in Palma de Mallorca, das voll in deutscher Hand zu sein schien. Ich nahm Kontakt zu einen deutschen Arzt auf, der sofort bereit war, mir zu helfen. Ich sagte ihm, welche Medikamente ich benötige, und er meinte, er würde mir glauben, denn diese Kombination wäre bei meiner Krankheit sehr sinnvoll. Ich müsste ihn auch nicht besuchen, denn er könne die Rezepte direkt zur Apotheke faxen. So verblieben wir bis zum nächsten Kontakt.

Gibt es hier die dringend benötigten Medikamente?

Wir legten im Hafen von Ciutadella de Menorca an, wo ich den Arzt wieder anrief. Er hatte aber einen dringenden Termin und bat mich zu warten. Da kam auch schon die Hafenpolizei und wollte uns wegjagen, weil zur Zeit keine fremden Schiffe erlaubt waren. Der Kapitän erklärte die Lage, und die Polizei wartete, bis ich mit dem Arzt die letzten Details besprochen hatte. Er hatte es geschafft, eine Apotheke in der Nähe des Hafens zu finden, die meine Medikamente vorrätig und ausserdem geöffnet hatte.

Ich ging an Land, und das Schiff – inzwischen war die gelbe Quarantäne-Flagge gehisst – legte weisungsgemäss ab, um in der Nähe zu ankern. Ein Polizist rief ein Taxi und meinte, ich könne auch erst mal zu einem Supermarkt fahren und einkaufen. Gute Idee! Ich rief den Kapitän an und fragte, ob ich etwas einkaufen solle. Kurz darauf bekam ich eine SMS mit einer Einkaufsliste.

Die Stadt war inzwischen auf "Lockdown" und fast menschenleer. Im Supermarkt wurde nur eine kleine Anzahl frisch desinfizierte Einkaufswagen zur Verfügung gestellt. Immerhin bekam ich fast alles, was ich suchte. Dann brachte mich ein weiteres Taxi zur Apotheke und wieder zum Hafen, nachdem ich meine Medikamente schnell und reibungslos erhalten hatte. Ich rief den Kapitän an und wurde mit dem Beiboot zum Schiff gebracht.

Jetzt darf kein Passagier mehr das Schiff verlassen

Unser nächstes Ziel war Castellón de la Plana an der spanischen Ostküste. Die „Shtandart“ war dort zu einem grossen Hafenfest eingeladen worden, das nun wegen Lockdown komplett ausfiel. Aber wenigstens hatten wir jetzt einen Hafen, wo wir nicht weggejagt wurden. Allerdings durften wir das Schiff auch nicht verlassen, wir standen unter Quarantäne.

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Die Bürgermeisterin bringt Lebensmittel ans Schiff.© privat

Die Bürgermeisterin Amparo Marco Gual begrüsste uns am 27. April persönlich und packte eine Menge Lebensmittel aus ihrem Auto, die wir an Bord brachten, nachdem sie wieder weg gefahren war.

Langeweile kam nicht auf, denn es gab reichlich Wartungs- und Reparaturarbeiten zu erledigen. Etwas Land nahmen wir dann doch in Beschlag, um unser Beiboot zu überholen und um abends Squash zu spielen und Volkstänze aufzuführen. Die Hafenverwaltung schaute öfters vorbei, protestierte aber nicht.

Dennoch fand ich diese Situation inakzeptabel. Jeder Bürger der Stadt konnte trotz Hausarrest doch wenigstens einkaufen gehen, aber wir wurden eingesperrt wie Verbrecher? Dagegen musste etwas unternommen werden, zumal wir seit Malta keine direkten Kontakte mit anderen Menschen gehabt hatten, was eigentlich als Quarantäne hätte zählen müssen.

Ich schrieb eine E-Mail an die Bürgermeisterin, bekam aber nur eine Antwort von einer ihrer Mitarbeiterinnen mit dem Verweis auf eine Instruktion der spanischen Regierung, nach der die Einreise in die Schengener Staaten derzeit aus Drittstaaten sehr stark eingeschränkt wäre. Immerhin teilte sie mir den Namen eines Hafenagenten mit, an den wir uns wenden sollten, wenn wir etwas brauchen. Ich schrieb also an den Hafenagent, dass ich als Deutscher von dieser Instruktion nicht betroffen wäre, und bat um Erlaubnis, einkaufen gehen zu dürfen. Er antwortete, er könne mir nicht helfen, organisierte aber einen grossen Lebensmitteltransport für uns.

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Die Shtandart muss gewartet werden.© privat

Genauso fruchtlos war auch eine E-Mail an die Hafenverwaltung. Aber so schnell gab ich nicht auf. Ich rief das Auswärtige Amt an und bekam den Rat, mich an den Generalkonsul Peter Rondorf in Barcelona zu wenden, der wäre sehr kampfeslustig und würde solche Fälle lieben. Aber entweder hatte ihn die Kampfeslust verlassen, oder meine E-Mail war gleich von einer Mitarbeiterin abgeblockt worden – jedenfalls wurde mir auch hier nur geraten, die Quarantänezeit abzuwarten.

Die Odyssee neigt sich dem Ende

Parallel zu meinen Bemühungen, das Schiff zum Einkaufen verlassen zu dürfen, hatte ich auch versucht, meine Heimreise zu organisieren, und wenigstens da hatte ich grünes Licht bekommen: wenn ich ein Flugticket vorweisen kann, darf ich den Hafen verlassen. Ich buchte also ein Zugticket von Castellón nach Barcelona und einen der speziellen Heimkehrerflüge mit Lufthansa. Am 10. April, fast sechs Wochen nach meiner Abreise, brachte mich ein Taxi direkt vom Schiff zum Bahnhof, ich fuhr in einem fast leeren Zug nach Barcelona und mit der U-Bahn zum Flughafen.

Auch hier herrschte fast gespentische Stille, nur vor dem Einchecken stand eine lange Schlange, immer schön mit Abständen zum Vordermann. Zum Glück wurde das Handgepäck nicht gewogen, denn bei meinem Hinflug mit Ryanair waren 10 kg erlaubt, bei Lufthansa jedoch nur 8 kg.

Inzwischen hatte ich Hunger bekommen und musste froh sein, dass ein Bistro wenigstens noch ein paar notdürftige Speisen anbot. Schliesslich sass ich wie erwartet auf meinem Fensterplatz, doch kurz darauf setzte sich ein Ehepaar zu meiner Verblüffung neben mich. Wozu dann die Abstände beim Einchecken und bei der Gepäckkontrolle? Als aber alle Passagiere eingestiegen waren, gab es hinten noch so viele leere Plätze, dass das Ehepaar beschloss, dort zu sitzen. Der Flug verlief problemlos wie auch die Heimfahrt mit der S-Bahn.

Kurz vor der Landung hatte eine Stewardess Zettel mit der Information verteilt, dass genau ab heute alle Rückkehrer aus dem Ausland sich beim Gesundheitsamt zu melden und 14 Tage in häuslicher Quarantäne zu verbringen hätten. Wäre ich doch bloss einen Tag früher geflogen! Ich schrieb eine E-Mail an das Gesundheitsamt und schilderte, dass ich seit mehreren Wochen keinen direkten Kontakt zu anderen Menschen gehabt hatte ausser mit solchen, die gesund waren. Wieder mal rannte ich gegen eine Mauer, wieder mal gab es keine Diskussion, wieder mal siegten die Paragraphen. Selbstverständlich war ich auch nach 14 Tagen so gesund wie immer und wurde in die Freiheit entlassen. Wenn ich die Zeit auf dem Schiff mitrechne, dürfte ich sicherlich den Weltrekord in überstandenen Quarantäne-Tagen halten."

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Die „Shtandart“ vor Sardinien.© privat

Hier gibt es weitere Geschichten im Podcast von "Logbuch Quarantäne":

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