https://www.sueddeutsche.de/image/sz.1.4917032/1408x792?v=1590393469
Arbeiter mit Schutzmasken auf einem Recycling-Hof in der peruanischen Hauptstadt Lima.
(Foto: Rodrigo Abd/AP)

Vielleicht am Virus sterben - oder ganz sicher am Hunger

In Lateinamerika explodiert die Zahl der Corona-Infizierten - und zwar selbst in Ländern mit strengen Ausgangssperren. Denn viele Menschen können sich eine Quarantäne schlicht nicht leisten.

by

Es ist noch gar nicht lange her, da blickten die Menschen in Lateinamerika mit Schrecken auf die Tragödie, die damals Europa überrollte. In der Alten Welt tobte das Virus, Tausende starben, Bilder von weinenden Ärzten in Bergamo oder Madrid flackerten in Buenos Aires und Medellín über die Bildschirme. In Lateinamerika selbst waren die Fallzahlen zu diesem Zeitpunkt noch gering, die Grenzen offen, die Straßen voll. Längst aber hat sich die Lage geändert: In Europa kehrt langsam die neue Normalität ein, in Lateinamerika aber explodieren nun die Fallzahlen.

Weit mehr als eine halbe Million Infektionen wurden in der Region schon offiziell registriert, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein und der Höhepunkt noch weit entfernt. Schon jetzt sind in einigen Ländern die Gesundheitssysteme zusammengebrochen, es gibt keine Betten in den Notaufnahmen mehr, teilweise werden Särge knapp. Tote müssen in Massengräbern bestattet werden, Hilfsorganisationen befürchten eine Katastrophe, und immer drängender wird die Frage: Wie konnte es nur so weit kommen?

Auf den ersten Blick scheint die Antwort einfach: Die Politik ist schuld. Das ist nicht unbedingt falsch, aber eben nur ein Teil der Wahrheit.

Drei Monate ist es nun her, seit Ende Februar offiziell der erste Patient mit Covid-19 in Lateinamerika diagnostiziert wurde. Es war ein 61 Jahre alter Mann aus São Paulo. Mittlerweile ist die Zahl der Infektionen allein in Brasilien auf weit mehr als 300 000 gestiegen, mehr Erkrankungen gibt es weltweit überhaupt nur noch in den USA.

Dennoch hat die Regierung immer noch keine landesweite Quarantäne verhängt, im Gegenteil: Präsident Jair Bolsonaro wiegelt ab. Er wettert gegen Isolationsmaßnahmen, und mitten in der Pandemie versinkt das brasilianische Gesundheitsministerium dazu auch noch im Chaos: Ein Minister wurde gefeuert, der andere schmiss hin, nun hat kommissarisch ein Mann aus dem Militär die Leitung übernommen, ohne medizinische Ausbildung oder mit nur rudimentärer Erfahrung in der Gesundheitspolitik.

Viele Brasilianer protestieren mittlerweile gegen den Präsidenten. Auf dem Balkon oder vor dem offenen Fenster schlagen sie wütend auf Pfannen und Töpfe. Selbst konservative Zeitungen fordern Bolsonaros Rücktritt und die Opposition eine Amtsenthebung. Ist er erst einmal weg, wird alles gut, so lautet die Hoffnung. Aber sie trügt. Wäre Politik das einzige Problem, dann wäre die Situation zum Beispiel in Peru nicht so, wie sie jetzt ist.

Weiter zu Seite 2