Erster Jahrestag des Lübcke-Mordes
Nach dem Todesschuss tippte der Killer sein Opfer kurz an
BILD rekonstruiert, wie Neonazi Stephan Ernst (46) nachts dem Kasseler Regierungspräsidenten auflauerte
by Ralf SchulerEs ist der 1. Juni 2019. Als kleine Vorahnung des kommenden Dürre-Sommers klettern die Temperaturen bei der traditionellen Weizenkirmes in Wolfhagen-Istha bei Kassel auf knapp 30 Grad. Die Sonne lacht auf das Volksfest hinab, das vom Himmelfahrtstag in das Brückenwochenende reicht.
Seit einer Bürgerversammlung im Migrationsherbst 2015 ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke (65) das zentrale Feindbild für den Neonazi Stephan Ernst (46) und seinen Freund Markus H. (43).
Lübcke verteidigt damals den Bau einer Erstaufnahmeeinrichtung gegen Proteste aus der Bevölkerung mit deutlichen Worten: „Es lohnt sich, in unserem Land zu leben. Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“
Nach dem ISIS-Anschlag von Nizza (14. Juli 2016) beginnt Ernst mit planmäßigen Recherchen zum Mord an Lübcke, erkundet die Umgebung des Hauses, filmt mit einer Dashcam und schafft sogar eine Wärmebildkamera an, um Personen im Dunkeln zu erkennen.
Immer wieder fährt er zum Wohnhaus und fasst 2017 den Entschluss, Lübcke während der Weizenkirmes zu ermorden. Einerseits, um in der Menge unerkannt zu bleiben, andererseits, um Terror unter die Feiernden zu bringen, wie er in der ersten Vernehmung nach der Festnahme sagt.
2018 nähert sich Stephan Ernst Lübcke bis auf wenige Meter mit der späteren Tatwaffe, drückt dann jedoch nicht ab.
Am 1. Juni 2019 ist Ernst wieder entschlossen zur Tat. Tagsüber habe er in seinem Haus gearbeitet, sei angespannt und fahrig gewesen, sagt er den Ermittlern später. Um 19.30 Uhr macht er sich nach Istha auf den Weg. Die Waffe in einer Nylontasche mit Klettverschluss.
Er wartet bis 23 Uhr, beobachtet das Lübcke-Haus von der angrenzenden Pferdekoppel aus. Als er fast schon zu seinem Auto (VW Caddy) zurückkehren will, verrät der Schein eines Handy-Displays Walter Lübcke auf der Terrasse.
Lübcke trägt ein Kurzarmhemd und eine Latzhose, die er gewöhnlich für die Gartenarbeit anzieht. Er will den Tag mit einer Zigarette ausklingen lassen, setzt sich auf einen Gartenstuhl und sucht auf seinem Dienst-iPad nach einem Hotel in der Rhön, wo er am nächsten Tag mit seiner Frau einen Kurzurlaub verbringen will.
Es ist dieser Lichtschein, der den Killer wieder anlockt.
Gegen 23.30 Uhr tritt Ernst aus dem Schatten der Bäume auf die Terrasse und feuert aus seinem bereits gespannten Double-Action Revolver Marke Rossi (Kaliber 38 Spezial) einen Schuss aus etwa einem bis anderthalb Metern auf den Kopf des Opfers ab.
Der Killer berührt den Toten kurz, um zu sehen, ob er tot ist und tritt ins Dunkel zurück.
Er habe kein Mündungsfeuer gesehen, gab der mutmaßliche Täter später zu Protokoll. Der Knall sei sehr laut gewesen. Allenfalls den Schatten des Täters könne Lübcke auf dem Display des Tablets wahrgenommen haben, schreiben die Ermittler später in ihre Akten. Es gibt keine Abwehrspuren.
Der Schuss traf den CDU-Politiker laut Gerichtsmedizin nahezu waagerecht über dem rechten Ohr, durchschlug die Unterkanten beider Hirnhauptlappen und blieb oberhalb des linken Ohres in der Schädelwand stecken, wo er eine 3,5 cm große Trümmerzone und einen Bruch des Schädeldachs von 21 cm Länge verursachte.
Lübcke ist sofort tot. Es dauert knapp eine Stunde, bis der jüngere Sohn Jan-Hendrik den Vater leblos auf der Terrasse findet. Der Tote hält seine kaum abgebrannte Zigarette noch in der linken Hand.
Um 0.33 Uhr registriert der Rettungsdienst den Notruf, um 2.45 Uhr wird in der Kreisklinik Wolfhagen bei Kassel der Tod von Lübcke festgestellt. Erst dort entdeckt man die Schusswunde über dem rechten Ohr.