Sisyphusarbeit für Ordnungshüter
Ein Jahr Fahrverbot in Darmstadt - und Tausende ignorieren es
Seit einem Jahr gilt für Abschnitte zweier Hauptverkehrsadern in Darmstadt ein Fahrverbot für alte Diesel und Benziner. Auch für Laster sind die Strecken tabu. Das interessiert viele Betroffene aber nicht.
Darmstadt ist bislang die einzige hessische Stadt, in der es Fahrverbote gibt. Seit knapp einem Jahr gelten diese auf Abschnitten zweier Hauptverkehrsadern für alte Diesel und Benziner sowie für Lastwagen. Der Grund: viel zu dreckige Luft und die daraus resultierenden Gesundheitsgefahren für die Anwohner.
Doch viele Verkehrssünder ignorieren das Verbot. Die aktuellsten Auswertungen zeigen, dass in mehr als 16.500 Fällen bis in den März und April hinein Fahrer von Autos und Lastern trotzdem über die beiden gesperrten Straßen gefahren sind. Präsenzkontrollen der kommunalen Behörden wurden nach Angaben der Stadt hier nicht einmal mitgerechnet.
Verdachtsunabhängige Kontrollen
Erkannt werden Sünder, weil sie beim Überfahren einer roten Ampel oder wegen zu hoher Geschwindigkeit geblitzt werden. Seit einigen Wochen hat die Stadt den Verfolgungsdruck erhöht und blitzt nun auch verdachtsunabhängig. Offensichtlich mit Erfolg, denn die Zahl der Fahrverbots-Ignoranten ist rückläufig.
Für die Ordnungshüter aber ist es eine Sisyphusarbeit. Bei jedem Foto muss per Hand über das Kennzeichen abgeklärt werden, ob der Fahrer gegen das Verbot verstoßen hat. Vom 1. Juni 2019 bis ins Frühjahr 2020 wurden nach Angaben der Stadt auf den beiden Streckenabschnitten in der Hügelstraße und Heinrichstraße wegen anderer Verkehrsverstöße mehr als 72.000 Fahrzeuge geblitzt.
Mehrere Jahre erhöhte Stickstoffdioxid-Werte
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und die schwarz-grüne Landesregierung hatten sich darauf geeinigt, einen 640 Meter langen Abschnitt der viel befahrenen Hügelstraße und 330 Meter der Heinrichstraße für Dieselfahrzeuge bis Euronorm 5 und für Benziner bis Euronorm 2 zu sperren.
In Darmstadt waren 2018 an Messstellen Jahresmittelwerte an der Hügelstraße von knapp 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Stickstoffdioxid und an der Heinrichstraße von rund 54 Mikrogramm pro Kubikmeter gemessen worden. In den Jahren davor lagen die Werte noch höher. Der EU-Grenzwert liegt bei einem Jahresmittelwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter.
Gesundheitsgefahr Stickstoffdioxid
Stickstoffdioxid reizt die Atemwege. Beim Einatmen kommt es nach Angaben des Umweltbundesamtes mit den Schleimhäuten der Atemwege in Kontakt und kann Entzündungs- und Umbauprozesse in den feinsten Bestandteilen der Lunge, den Lungenbläschen, in Gang setzen. Langfristig könnten erhöhte Stickstoffdioxid-Konzentrationen unter anderem zu einer Entzündung der Atemwege, einer Verschlechterung vorbestehender Atemwegserkrankungen (etwa Asthma) und zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen.
Die Stadt sieht sich heute auf einem guten Weg. "Die Messwerte für Stickoxid gehen deutlich nach unten", sagt die für die Umweltpolitik zuständige Stadträtin Barbara Akdeniz (Grüne). Im Mittel seien die Werte durch die Fahrverbote, kombiniert auch durch Tempo-30-Zonen, seit Juni 2018 um 30 Prozent gesunken. In der Heinrichstraße würden Messungen unterhalb der Grenzwerte liegen. Bei einem Passivsammler an der Hügelstraße indes noch nicht, sagt Akdeniz.
Grüne wollen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einführen
Die Tempo-30-Zonen seien zwar nicht primär wegen des Schadstoffausstoßes eingerichtet worden, sie seien aber auch hier hilfreich. "Wir wollen politisch fordern, Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einzuführen. Davon würden die Sicherheit, der Lärmschutz und auch die Luft profitieren", betonte Akdeniz. Rechtlich gebe es hier aber Hürden. Eine Prognose für einen Ausstieg aus den Fahrverboten gibt es nach den Worten von Stadträtin Akdeniz nicht. Erst wenn dauerhaft die Grenzwerte unterschritten seien, sei dies eine Option.
"Oberstes Ziel ist es, den Individualverkehr zu reduzieren", sagte Akdeniz. In einem sogenannten Green City Plan will die Stadt unter anderem den Öffentlichen Nahverkehr stärken und das Radwegenetz ausbauen, um Autos aus der Stadt rauszuhalten. Zwar müssten durch die Corona-Krise wegen der enormen Mindereinnahmen alle Maßnahmen überprüft werden. "Ich bin mir aber sicher, dass wir nicht beim Klimaschutz sparen werden."
Umwelthilfe: Hügelstraße einer der schmutzigsten Orte Deutschlands
Passivsammler zur Schadstoffmessung
Die Stickstoffdioxid-Werte an besonders stark befahrenen Straßen werden auf zwei Arten gemessen: Über fest installierte Messstationen und über sogenannte Passivsammler. Bei diesen Geräten gelangt die Umgebungsluft in Messröhrchen. In der Regel werden die Röhrchen nach einem Monat geschlossen und im Labor ausgewertet. Anders als fest installierte Messstationen liefern sie so keine minutengenauen Auswertungen, sondern den Durchschnittswert eines Monats.
Die optimistische Einschätzung der Stadt beim Rückgang der Schadstoffe teilt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) indes nur für die Heinrichstraße. Zwar seien die Werte in Darmstadt drastisch verbessert worden, doch gebe es in der Hügelstraße auch in den ersten vier Monaten 2020 keine Entwarnung, sagt Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. "Wir werden in den nächsten Tagen das Land auffordern, geeignete Maßnahmen zu ergreifen."
Die Hügelstraße sei einer der schmutzigsten Orte Deutschlands. "Es gibt Vereinbarungen. Wenn keine neuen Änderungen kommen, werden wir Zwangsmaßnahmen einleiten." Denkbar sei eine Ausdehnung des Fahrverbots auf weitere Fahrzeugtypen oder auch Schritttempo in dem Abschnitt.
Neues Tempolimit in Limburg
Die DUH verklagte nach Angaben von Resch deutschlandweit bislang rund 40 Städte. Frankfurt müsse bis zum Herbst Pläne vorlegen. Für Wiesbaden sind Fahrverbote nach einem Vergleich vorerst vom Tisch. In Hessen wurden auch noch Offenbach und Limburg verklagt. In Limburg gilt seit Montag in der Innenstadt zum Teil Tempo 30 oder sogar Tempo 20. Die Stadt will damit die Lärmbelastung verringern, über die sich Anwohner seit Jahren beschweren, und auch Stickoxide vermeiden.
Sendung: hr-iNFO, 25.05.2020, 8 Uhr