Ramelow-Vorstoß trifft auf Kritik
Corona-Beschränkungen
by tagesschau.deWegen der niedrigen Zahl der Corona-Infektionen in Thüringen will Regierungschef Ramelow die allgemeinen Beschränkungen schnell wieder aufheben. Das hält nicht nur SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach für einen Fehler.
Die Ankündigung von Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, die allgemeinen Corona-Beschränkungen in seinem Bundesland ab 6. Juni aufzuheben, ist auf Skepsis und Kritik gestoßen. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bezeichnete die Ankündigung als klaren Fehler. "Wir haben keine Neuigkeiten in Bezug auf die Gefährlichkeit des Virus", sagte Lauterbach der "Saarbrücker Zeitung". Thüringen stelle jetzt genau die Maßnahmen in Frage, "denen man den gesamten Erfolg im Moment zu verdanken hat".
"Ramelow relativiert damit die Krankheit", sagte Lauterbach. Nach wie vor sei die Sterblichkeit durch das Coronavirus hoch, gerade bei älteren Menschen. Es blieben auch oft Spätschäden zurück. Außerdem gebe es weder ein wirksames Medikament noch eine Impfung, betonte der Mediziner. "Von daher gibt es überhaupt keinen Grund, das aufzuheben, was wir mühsam gelernt haben - etwa Abstand zu halten und eine Maske zu tragen." In der "Rheinischen Post" warnte Lauterbach zudem vor einem "bundesweiten Wettlauf der Länder, der aus medizinischer Sicht katastrophal wäre".
Michael Roth (SPD), Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, twitterte, er wünsche allen Thüringerinnen und Thüringern und denen, die das Land besuchten, viel Gesundheit. "Der Föderalismus lässt es mal so richtig krachen und zeigt, was in ihm steckt. Wer schützt jetzt die vielen Vernünftigen vor den wenigen Verantwortungslosen?"
Ramelow verteidigt "realistische Konsequenzen"
Ramelow verteidigte seine Pläne. "Das Motto soll lauten: Von Ver- zu Geboten, von staatlichem Zwang hin zu selbstverantwortetem Maßhalten", sagte der Linkspolitiker der "Bild am Sonntag". Die bisherigen Regelungen seien im März auf der Grundlage von Schätzungen von 60.000 Infizierten beschlossen worden. "Jetzt haben wir aktuell 245 Infizierte. Der Erfolg gibt uns mit den harten Maßnahmen recht, zwingt uns nun aber auch zu realistischen Konsequenzen und zum Handeln", sagte Ramelow. "Das heißt: Für Thüringen empfehle ich die Aufhebung der Maßnahmen."
Statt allgemeiner Auflagen für Mundschutz, Mindestabstand und Kontaktbeschränkungen sollen in Thüringen künftig nur noch regionale Maßnahmen abhängig vom Infektionsgeschehen vor Ort gelten. Dafür ist ein Grenzwert von 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche im Gespräch.
Skepsis in der eigenen Koalition
Mit seinen Plänen stößt Ramelow in der eigenen Koalition noch auf zurückhaltende bis skeptische Reaktionen. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion im Thüringer Landtag, Matthias Hey, sagte der "Bild am Sonntag", Ramelows Vorhaben habe "überall große Irritationen ausgelöst".
Thüringens Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) erklärte, er unterstütze den Vorschlag, "soweit damit nicht grundlegende Hygiene- und Arbeitsschutzregelungen gemeint sind". Eine zügige Aufhebung aller Corona-Beschränkungen bedeute ein Aufatmen bei Familien, Beschäftigten und in der Wirtschaft, betonte Tiefensee. Damit könnten alle Unternehmen und Einrichtungen, für die noch Einschränkungen gelten, wieder öffnen.
Zugleich forderte Tiefensee aber Vorgaben des Landes zu Hygiene- und Schutzstandards. Diese dürften nicht an Kommunen und Unternehmen delegiert werden, warnte er.
Auch auf lokaler Ebene wurden kritische Stimmen laut. "Mir scheint das ein Gang aufs Minenfeld", schrieb Jenas Oberbürgermeister Thomas Nitzsche (FDP) auf Facebook. "Wo's kracht, da gibt's halt lokal einen zweiten Lockdown. Soll das wirklich unsere Strategie sein in Thüringen?" Im Kampf gegen das Coronavirus war Jena als Thüringens zweitgrößte Stadt bundesweit Vorreiter in Sachen Maskenpflicht.
"Entsetzen" in Bayern
Mit scharfer Kritik reagierte Bayerns Staatsregierung auf die Pläne. Was Thüringen plane, sei ein hochgefährliches Experiment für alle Menschen im Lande, sagte Florian Herrmann (CSU), Leiter der bayerischen Staatskanzlei, im BR.
Man sei "entsetzt" darüber, dass elementare Schutzmaßnahmen nun aufgegeben werden sollen. Das komme viel zu früh und sei der aktuellen Situation nicht angemessen. Für Bayern sieht der Staatskanzleichef besondere Gefahren, da Thüringens "Corona-Hotspot" Sonneberg direkt an den Freistaat angrenze. Man müsse sich nun überlegen, wie man damit umgehen werde, so Herrmann.
Andere Bundesländer wollen vorsichtig bleiben
Skepsis gibt es auch in anderen Bundesländern. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) sagte der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung", die Vorgänge in Leer und in Dissen zeigten, "dass wir nach wie vor sehr vorsichtig sein und die Vorgaben beachten müssen". Das Coronavirus sei keineswegs aus der Welt, "und deshalb wollen wir in Niedersachsen auch weiterhin die Lockerungen nur Schritt für Schritt ausweiten, ohne den Bogen zu überspannen".
Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) warnte ebenfalls vor zu schnellen Lockerungen. "Unser aller Job in der Politik ist jetzt nicht alleine, Sehnsüchte zu stillen", sagte er der "Welt". Es gehe darum, "weiter nüchtern, verantwortungsvoll und wissenschaftsgeleitet abzuwägen". Bei allen Lockerungen müsse gelten: "Wir brauchen auch weiterhin staatlich vorgegebene Regeln, damit die Vorsichtsgebote eingehalten werden, um dadurch regionale Lockdowns sowie erhöhte Todesraten zu vermeiden."
Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) sagte der "Bild am Sonntag", er sei "dankbar für jede Lockerung, die wir verantworten können. Aber wir müssen umsichtig und vorsichtig sein". Die Gefahr sei noch nicht gebannt. Ähnliche Töne kommen auch aus dem nur noch schwach von der Pandemie betroffenen Mecklenburg-Vorpommern. "Ich halte eine komplette schnelle Lockerung für verfrüht", sagte Landesinnenminister Lorenz Caffier (CDU).
Grüne mahnen, FDP lobt "mutigen Schritt voran"
SPD-Parteichefin Saskia Esken wies auf zahlreiche Verstöße gegen das Abstandsgebot hin. "Menschen brauchen offenbar weiterhin Klarheit, Sicherheit und Orientierung durch überregionale Regeln wie zur Hygiene, zum Abstandhalten und zur Eingrenzung naher Kontakte", sagte sie der "Welt". Nicht alle gingen verantwortlich mit neuen Freiheiten um.
Mit Blick auf Infektionsfälle nach Gottesdienst- und Restaurantbesuchen rief Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt die Länder auf, ihre Regeln zum Schutz vor dem Coronavirus immer wieder auf die Wirksamkeit hin zu überprüfen. "Viele von ihnen haben die Lockerungen vorangetrieben", sagte Göring-Eckardt den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. "Sie müssen jetzt aufpassen, dass uns die Situation nicht entgleitet."
FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae erklärte, Thüringen gehe "einen mutigen Schritt voran". Die weitere Entwicklung müsse wachsam beobachtet werden. "Wenn sich ein Infektionsherd örtlich auf bestimmte Landkreise, Orte oder gar nur Einrichtungen begrenzen lässt, ist es jedoch nicht zwingend erforderlich, ein ganzes Bundesland mit allen Nebenfolgen ins künstliche Koma zu versetzen."