Der Staat muss uns vor der Tracing-App schützen
Politiker wie Axel Voss fordern "Anreize" für die Nutzung der Corona-App. Doch das schafft nicht das notwendige Vertrauen in die staatliche Technik.
by Stefan BrinkNach intensiven Diskussionen soll die Corona-Warn-App in wenigen Wochen in Deutschland starten. Doch sind genug Bürgerinnen und Bürger bereit, die App zu installieren, nachdem die Bundesregierung sich für den datenschutzfreundlichen dezentralen Ansatz entschieden hat? Wie kann der Staat unser Vertrauen in die Tracing-App stärken? Die Antwort darauf ist vielschichtig, lässt sich aber in einem Satz zusammenfassen: Der Staat kann uns Bürger durch eine Tracing-App nur dann schützen, wenn er uns so gut er nur kann vor der Tracing-App schützt.
So paradox dies zunächst klingen mag, zum Erfolg kann die App nur werden, wenn ihr möglichst viele Nutzerinnen und Nutzer vertrauen. Und dieses Ziel erreicht der staatliche Anbieter dieser App nur, wenn er über die Nutzung der Applikation eine Debatte mit Raum für das Abwägen von Argumenten zulässt, wenn er dies transparent und mit großer Klarheit hinsichtlich seiner Ziele tut und wenn er schließlich verbindliche Garantien für die Freiwilligkeit und Zweckbindung der App-Nutzung abgibt.
Der Staat unterschätzt seine Bürger
Der Staat unterschätzt immer noch gravierend, dass seine Kunden mündige Bürgerinnen und Bürger sind. Soll heißen: Nutzen wir vom Staat zur Verfügung gestellte digitale Dienste, akzeptieren wir keine intransparenten AGB zur "Sicherung des Komforts" oder zur "Steigerung des Nutzererlebnisses".
Bei staatlichen Angeboten müssen wir auch drauf vertrauen können, dass diese Dienste unsere Grundrechte und demokratischen Werte schützen. Umso törichter ein Robert-Koch-Institut (RKI), das kurz vor Präsentation der so hoffnungsbeladenen Tracing-App eine Allianz mit der halbseidenen Liga der Fitness-Tracker einging und das Vertrauen der Bevölkerung so schon frühzeitig zu verspielen drohte.
Technik verändert Realität
Die ersten Reaktionen auf die Gesundheitskrise liegen hinter uns - sie reichten von "Dies ist die Stunde der Exekutive" (... und nicht die der Deliberation) bis zur Kritik an ausufernden Diskussionen ("Öffnungsdiskussionsorgien"). Auch die Debatte um die Tracing-App zeigt, dass die Schockstarre nach dem Lockdown überwunden ist und gemeinsam nach der besten Lösung gesucht wird.
Wer derartige Diskussionen für Zeitverschwendung hält, verkennt, dass gerade die gesellschaftliche Diskussion Verständnis schafft und die Grundlage für die Akzeptanz von Technologien und das Vertrauen in sie bildet.
Jede Technologie, die einmal in der Welt ist und so umfassend in unsere Kultur und Gesellschaft, aber auch in unser privates Leben eingreift wie eine mit sensiblen Daten arbeitende App, verändert unsere Realität. Gerade wenn die App wie von der Politik erwünscht zu unser aller täglichem Begleiter und deren Nutzung zum allseits akzeptierten Ritual wird, greift diese Anwendung grundlegend in unser tägliches Tun und Verhalten ein.
Über die Corona-App muss unbedingt diskutiert werden
Daher ist die Diskussion über eine App, die nach Möglichkeit jede Bürgerin und jeden Bürger tagtäglich begleiten soll, auf keinen Fall verschwendete Zeit. Dieser Diskurs ist schlicht Teil unserer Selbstbestimmung. Und die leidet nicht nur unter Diskursverboten, sondern auch unter höchst einseitig geführten Debatten. Das betrifft die Frage, ob dem Schutz des Lebens alles andere untergeordnet werden muss. Eine Verabsolutierung des Lebensschutzes erstickte lange Zeit jede Möglichkeit einer Diskussion und verkürzte den elementaren gesellschaftlichen Diskurs, wie wir leben wollen.
Der Mensch habe nicht nur ein Recht auf Leben, führte der Philosoph Jürgen Habermas jüngst aus. Zur Würde des Menschen gehöre vielmehr das Recht auf ein im aristotelischen Sinne gutes, also selbstbestimmtes Leben. Die Entscheidung darüber, was ein gutes Leben für den Einzelnen darstelle, könne nur jeder für sich selbst treffen. Sie könne ihm nicht durch unseren dienenden, an die Wahrung der Grundrechte gebundenen Staat abgenommen werden.
Die Tracing-App macht nicht selig
Wir haben die Freiheit abzuwägen, inwieweit temporäre Einschränkungen unserer Grundrechte verhältnismäßig sind, um zu gewährleisten, dass das Gesundheitssystem nicht überlastet wird und jeder Hilfsbedürftige versorgt werden kann. Wer diese Diskussionen abwürgt, reduziert unsere Freiheit, statt sie zu verteidigen. Er büßt damit auch notwendiges Vertrauen in die Rationalität und Fairness unseres Gemeinwesens ein.
Debatten nicht nur zu führen, sondern auch vernünftig zu führen, bedeutet insbesondere, dass keine überzogenen Erwartungen in das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger gesetzt werden. Wer etwa bei der Tracing-App riesige Nutzerzahlen in den Raum stellt oder eine extreme Effizienz dieser technischen Hilfsmittel erwartet, weckt Hoffnungen, die enttäuscht werden müssen. Auch hier ist es ein Gebot rationalen Handelns, der App eine unterstützende, aber keineswegs eine "seligmachende" Funktion zuzuschreiben.
Zwang ist Gift für liberale Gesellschaft
Eine rationale Debatte muss zudem angstfrei geführt werden können. Angstfrei bedeutet auch, jeden Rückgriff auf (sozialtechnische) Zwangsmittel klar und eindeutig auszuschließen. Zwang ist Gift in einer liberalen Gesellschaft und versucht mit Druckmitteln das zu ersetzen, was an Vertrauen in demokratische Prozesse fehlt. Das kann auf Dauer nicht gelingen. Vielmehr sollte gerade umgekehrt mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit für Akzeptanz und Vertrauen in der Bevölkerung gesorgt werden. Nur so lässt sich eine große Mehrheit davon überzeugen, in Maßnahmen des Staates zu vertrauen.
Wer um Vertrauen für die Tracing-App wirbt (Werbeslogan: "Diese App kann nichts, außer Leben retten"), der kommt an der zentralen Rolle des Gesetzgebers nicht vorbei: Unsere Parlamente garantieren nicht nur unsere Bürgerrechte, sie kontrollieren auch die Exekutive bei deren grundrechtsintensiven Eingriffen anlässlich der Gesundheitskrise. Wir erleben gerade, inwieweit sich unsere demokratischen Prozesse als sattelfest erweisen. Die bisherigen Erkenntnisse sollten uns alarmieren.
Parlamente versagen bei Corona-Verordnungen
Rasch hat sich der Bundestag in eine nachrangige Rolle hinter der Bundesregierung und ihren Exekutivbefugnissen mit zahllosen Verordnungen und Anweisungen in sensibelsten Grundrechtsbereichen begeben. Zu Recht wird darüber diskutiert, ob die Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) verfassungswidrig war. Sie übertrug der Regierung nämlich die Befugnis, mit einfachen Verordnungen selbst Parlamentsgesetze auszuhebeln.
"Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung.", bemängeln Verfassungsjuristen.
Damit ist zugleich die Legalität aller folgenden Coronaverordnungen infrage gestellt. Diejenige Staatsgewalt, die dem Bürger am nächsten steht und in besonderer Weise zu seinem Schutz berufen ist, ist der Bundestag. Dass das Bundesministerium für Gesundheit nun eigenmächtig und zeitlich unbegrenzt in Form von Verordnungen Ausnahmen zu Vorgaben des IfSG beschließen kann - was auch Eingriffe in viele unserer Grundrechte umfasst -, geht an der Idee der Gewaltenteilung weit vorbei. Heißt: Kompass demokratischer Gesellschaften muss stets die Legislative bleiben.
Regierungen in Bund und Ländern versagen
Daher müssen die Parlamente gerade in der Krise ihre Standfestigkeit unter Beweis stellen - und ihren unbedingten Willen, erste Gewalt im Staat zu bleiben. Temporär begrenzte Grundrechtseingriffe können in Ausnahmefällen durchaus notwendig sein, doch sie bedürfen einer umfassenden und reflektierten Begründung und Diskussion. Bereits an dieser Stelle versagen derzeit viele Regierungen in Bund und Ländern, denn nachvollziehbare Begründungen für die freiheitsbeschränkenden Corona-Verordnungen sucht der Bürger vielerorts vergebens. Das bedroht schlicht die Demokratie.
Die nun notwendigen Debatten müssen mit großer Transparenz und Klarheit geführt werden, wenn sie das angestrebte Vertrauen der Bevölkerung herstellen sollen. Das gilt gerade und besonders für die Tracing-App.
Eine gesetzliche Grundlage für die Corona-App ist am wichtigsten
Eine gesetzliche Grundlage zum Einsatz der App ist die vertrauensbildende Maßnahme schlechthin. Per Gesetz muss etwa die Maxime der bedingungslos freiwilligen Nutzung als nicht verhandelbar festgeschrieben werden. Dies gilt umso mehr, als bereits im Vorfeld der Bereitstellung der App an der Freiwilligkeit ihrer Nutzung verschiedentlich gerüttelt wurde. Die Idee, für die Nutzung der App "Anreize" zu schaffen - etwa in der Form, dass nur deren Nutzer die Freiheit zurückerlangen, ins Kino zu gehen, ein Museum zu besuchen oder gar ins Ausland zu reisen, sogar von Steuerbegünstigungen war schon die Rede - führt in puncto Freiwilligkeit in die falsche Richtung.
Quellcode der Tracing-App muss offen sein
Dies degradiert den universalen Wert der Freiheit zu einem Privileg. Und dieses Privileg soll eben nur denen zuteilwerden, die sich anpassen, natürlich ganz freiwillig. Damit wird die Nutzung der App zur Tugend erklärt, die staatlich belohnt wird. Diese "Freiwilligkeit" verkommt zu einer leeren Hülse, Diskriminierung und Sanktionen wird so Vorschub geleistet.
Weder die Nutzung noch die Nicht-Nutzung der App dürfen an Bedingungen oder Folgen geknüpft sein. Auch wenn sich zu wenige Nutzer für die App finden, darf die Freiwilligkeit der Nutzung niemals zu einer Pflicht umgemünzt werden. Und genau dies muss gesetzlich garantiert werden.
Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Offenlegung des Source Codes der App. Er gibt darüber Auskunft, welche Verarbeitungsmechanismen und Datentransfers die App tatsächlich vorsieht - und kann daher verlässlich Zweifel und Misstrauen am Umgang mit unseren sensiblen persönlichen Daten ausräumen.
Wir verfügen in Deutschland über eine große Zahl zivilgesellschaftlicher Gruppen und fachkundiger staatlicher Stellen, welche den offengelegten Quellcode analysieren und die Öffentlichkeit über die Vertrauenswürdigkeit der App informieren können. Auch in diesem Punkt der Transparenz der App sollten gesetzgeberische Garantien denkbar weit gefasst werden.
Datenzugriff begrenzen
Gleichzeitig muss der Gesetzgeber das Interesse staatlicher Akteure an den Daten der App wirkungsvoll begrenzen. Jeglicher staatlicher Zugriff auf die Daten - sei es durch Forscher, die Wege aus der Gesundheitskrise suchen, sei es durch die Polizei, die sich um die Einhaltung von Quarantäne-Anordnungen kümmert, oder auch durch die Staatsanwaltschaft, für die der Zugriff auf die App-Daten wesentliche Erkenntnisse in laufenden Strafverfahren erbringen könnte -, muss definitiv ausgeschlossen werden.
In unserer aktuellen Lage geht es nicht darum, möglichst viele weitere Nutzungszwecke der erhobenen persönlichen Daten zu erschließen und so die App besonders effektiv zu machen. Sondern es geht um Verlässlichkeit und Vertrauen darauf, dass unsere Kontakt- und Gesundheitsdaten nicht zweckentfremdet werden.
Das gilt übrigens auch für den Zugriff durch Private, etwa durch Betreiber von Smartphone-Betriebssystemen wie Apple und Google oder Dienstleister, welche die Nutzung der Tracing-App zur Voraussetzung des Zugangs zu ihren Diensten erheben könnten. Das ist ein zentraler Punkt, um das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die App zu stärken. Die technischen Schnittstellen für die App werden von Unternehmen bereitgestellt, die nicht für ihre Gemeinnützigkeit in puncto Datenverarbeitung bekannt sind.
Zweitverwertung von Nutzerdaten ausschließen
Deshalb muss sichergestellt werden, dass unser Staat die Daten seiner Bürgerinnen und Bürger effektiv schützt. Und das selbstverständlich auch vor privaten Arbeitgebern, die von ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern den Nachweis der App-Nutzung zum solidarischen Erfordernis erheben könnten. Die Ausübung von Grundrechten wird in modernen Gesellschaften nicht alleine vom Staat eingeschränkt, sondern auch von sozial Mächtigen wie großen Dienstleistungsunternehmen oder Arbeitgebern - deren faktischer Einfluss auf unsere Freiheit kann sogar den des Staates noch übertreffen.
Transparenz und Klarheit bedeutet hierbei auch, jede Zweitverwertung der Daten eindeutig auszuschließen und auch nicht für Ziele wie die der Wissenschaft und Forschung zuzulassen. Dies schließt nicht aus, dass Nutzerinnen und Nutzer der App ihre Daten auch für andere Zwecke freigeben können - informationelle Selbstbestimmung heißt eben immer auch, seine Daten nach eigenen Maßstäben einsetzen und nutzen zu können. "Freigaben" sollten aber eben nicht im Rahmen der Tracing-App selbst, sondern in davon unabhängigen, getrennten Verfahren erfolgen.
Löschung gesetzlich verankern
Ein Parlamentsgesetzt sollte ausdrücklich alle Bestrebungen ausschließen, welche die Freiwilligkeit der Appnutzung unterminieren - egal, ob sie kommerziell, gesundheitspolitisch oder altruistisch motiviert sind und ob sie von privaten oder öffentlichen Stellen betrieben werden. Und abschließend sollte gesetzlich festgelegt werden, dass nach eindeutig bestimmten Kriterien mit dem Ende der Corona-Krise die Apps mitsamt allen erhobenen Daten rückstandslos gelöscht werden - und nicht etwa zur Absicherung vor dem diffusen Risiko einer möglichen zweiten Welle länger als nötig vorgehalten werden.
Dadurch würden wir unsere Zivilgesellschaft nämlich nicht stärken, sondern im Gegenteil dem Aufbau einer vielerorts befürchteten "Architektur der Überwachung" einen weiteren Baustein hinzufügen. Jüngst hat Edward Snowden auf eben diese Gefahr hingewiesen.
Beispiele für Jahre überdauernde "Notstandsgesetze" gibt es zahlreiche, man schaue nur auf den fortdauernden Ausnahmezustand in Frankreich oder den Patriot Act in den USA. Auf diese Weise wird der Krisenzustand der neue Normalzustand. Auch solche Szenarien erschüttern das Vertrauen in eine Tracing-App, die nichts nötiger hat als unser Vertrauen.
Stefan Brink ist seit 2017 Landesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit in Baden-Württemberg. Clarissa Henning ist Referentin beim Landesdatenschutzbeauftragten.