Wie Maria mit 900 Franken im Monat überleben muss
Sans-Papiers trifft die Coronakrise besonders hart. Auch nach dem Lockdown verbessert sich ihre Situation kaum. Maria* erzählt, wie sie mit 900 Franken im Monat versucht, über die Runden zu kommen.
by Sarah SerafiniSeit über zwei Monaten verdient Maria* nicht mehr genug, als dass sie davon leben könnte. Die 62-Jährige sieht müde aus. Dunkle Tränensäcke unter ihren Augen zeugen von schwierigen Tagen und noch schwierigeren Nächten. Ihr Haar ist im Nacken zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Mit ihrer flachen Hand drückt sie die widerspenstigen Strähnen dem Kopf entlang nach hinten.
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Trotz allem: Maria ist eine stolze Frau, ja, müde zwar, aber mit einem eisernen Willen. Noch 900 Franken sind es, die sie pro Monat mit Putzarbeiten verdient. Abzüglich der 500 Franken Miete und den 370 Franken für die Krankenkasse sind es 30 Franken, die ihr für tägliche Ausgaben bleiben. Man braucht nicht lange zu rechnen, um zu erkennen, dass das bei weitem nicht einmal die Lebensmittelkosten von einem Monat deckt.
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Marias Schicksal ist kein Einzelfall. Anfang dieses Monats zeigte das Westschweizer Fernsehen RTS Aufnahmen aus Genf, wo 2500 Menschen stundenlang in der Schlange standen, um einen Sack Nahrungsmittel entgegen zu nehmen. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Personen ohne Aufenthaltsbewilligung, sogenannte Sans-Papiers. Die Bilder schockierten die Schweiz und löste eine Debatte darüber aus, wie die Coronakrise die Ärmsten in unserer Gesellschaft trifft.
Die Empörung darüber, dass ein solches Elend in einem reichen Land wie der Schweiz vorkommt, ist inzwischen abgeflaut. Die Bilder der wartenden Menschen sind in den Hintergrund gerückt. Doch für Maria und viele andere hat sich die Situation keineswegs verbessert. Im Gegenteil. Denn die geschätzt 100'000 Sans-Papiers in der Schweiz erhalten weder Not- noch Sozialhilfe. Für sie gibt es keine Sonderkredite, kein Erwerbsersatz oder Kurzarbeitergeld. Verlieren sie ihren Job, bedroht das ihre Existenz.
Maria lebt seit 17 Jahren in der Schweiz. Eine Aufenthaltsbewilligung hat sie nicht. Als Lateinamerikanerin erhält sie in der Schweiz keine Arbeitsbewilligung. Keine Arbeitsbewilligung bedeutet kein Bleiberecht. Zurück in ihr Herkunftsland will sie nicht. Inzwischen gibt es dort nichts mehr, wofür es sich Zurückzukehren lohnt. Ihr Sohn, für den sie ihre Heimat ursprünglich verliess, ist nach langer Krankheit gestorben. Ihr Zuhause ist jetzt Zürich.
In die Schweiz gelangt sie damals über eine Familie, die ihr einen Job und ein Visum beschafft. Maria braucht dringend Geld. Ihr damals 20-jähriger Sohn muss zwei Mal in der Woche zur Dialyse. Die teure Therapie kann sie sich kaum leisten, vor allem nicht bei den schlechten Jobaussichten, die in ihrer Heimat herrschen. Hier kann sie als Putzfrau oder Kinderbetreuuerin in Privathaushalten arbeiten – ohne Arbeitsvertrag und damit ohne Rechte oder Möglichkeiten, sich zu wehren. Nicht selten wird dies von Arbeitgebern ausgenutzt. Sie drücken ihren ohnehin schon tiefen Lohn weiter runter.
Bis zum Beginn der Coronakrise konnte es sich Maria einigermassen gut einrichten. Nach vielen Jahren ist sie erfahrener, besser vernetzt und kennt mehr Leute. Sie lehnt auch mal einen Job ab, wenn sie von Arbeitgebern schlecht behandelt wird. Sie weiss, an welche Stellen sie sich bei Problemen wenden kann oder welche Orte sie wegen der Polizeikontrollen meiden muss. Denn auch nach 17 Jahren gilt noch immer: Fliegt Maria auf, wird sie ausgeschafft. Sie engagiert sich in einem Kollektiv für Sans-Papiers, lebt mit einer Landsfrau in einer Wohnung und verdient im Schnitt 1500 Franken im Monat. Dann kommt der Lockdown.
«Jetzt ist es schrecklich.» Maria spricht, ohne Panik in der Stimme, ruhig und langsam. «Die Leute bleiben zuhause und wollen nicht, dass ich bei ihnen putzen komme.» Eine ihrer Arbeitgeberinnen gehöre zur Riskogruppe und haben grosse Angst, Leute in ihr Haus zu lassen. Bei einer anderen Familie putze jetzt einfach die Ehefrau. Zwei Arbeitgeber von Maria sind nach wie vor bereit, sie zuhause zu empfangen. Damit entfällt ihr 40 Prozent des üblichen Einkommens.
Für die erste Zeit hat sie von der Sans-Papiers Anlaufstelle Zürich (SPAZ) einen Notkredit erhalten. Damit kann sie fürs Erste die Miete und die Krankenkasse bezahlen. Um sich Lebensmittel kaufen zu können, hat sie Coop-Gutscheine bekommen. Auch eine gute Freundin unterstützt sie mit finanziellen Mitteln. «Gott sei Dank! Ohne diese Hilfe könnte ich nicht leben», sagt Maria und fügt sogleich an: «Aber ich denke in dieser Krise weniger an mich, denn an die Personen, die jetzt noch schlechter dastehen als ich. Ich kenne Familien mit kleinen Kindern, die Angst haben, Hilfe zu beanspruchen. Sie stehen vor dem Abgrund.»
Wegen der vermehrten Polizeikontrollen traue sie sich auch weniger aus dem Haus raus. Als sie am ersten Tag in der Zeitung gelesen habe, dass nun 8000 Soldaten in den Kriseneinsatz geschickt werden, sei ihr das Herz in die Hose gerutscht.
Wie es jetzt weitergehen soll, weiss Maria nicht. Bisher habe sich die Situation für sie nicht normalisiert. Solange die Leute im Home-Office arbeiten, werde sich nicht gross etwas verändern. «Bei vielen bleibt die Angst vor dem Virus. Sie wollen keine Putzfrau zuhause haben. Oder sie fürchten sich von der drohenden Rezession und wollen es sich nicht mehr leisten.» Sie lebe von Tag zu Tag und der Hand in den Mund.
Aber den Glauben verloren, das habe sie nicht. «Ich bin katholisch und ich glaube an Gott und an seinen Plan. An seinen Schutz und dass er auf uns aufpasst», sagt sie mit bestimmten Blick. Ihr Gott sorge sich um die Migranten ohne Papiere, sie vertraue darauf, dass er sie nicht ohne Dach über dem Kopf und ohne Brot lässt. «Davon bin ich überzeugt.»
*Name der Redaktion bekannt.
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