Corona in Indien

Wie brutal eine Kerpenerin die Pandemie erlebt

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Kerpen - Als Christiane Gey Anfang März im indischen Dorf Khajuraho im Distrikt Madhya Pradesh über die Straße geht, um ihre Einkäufe in eines ihrer Kinderhäuser zu bringen, kommen Polizisten auf sie zu gerannt. In den Händen halten sie Knüppel und Steine. Und sie brüllen sie an: „Go home fucking white corona virus.“

Sie schafft es gerade noch, ins Haus zu gelangen, wo „ihre Kinder“ die „Nane“ – so der Spitzname, den sie ihrer Wohltäterin gegeben haben – schon angstvoll erwarten. „Ich hatte keine Ahnung, was los ist“, erinnert sich die gebürtige Kerpenerin und Trägerin des Adolph-Kolping-Preises, die mit ihrer Organisation Childsrights in Indien drei Kinderhäuser betreibt. „Ich dachte nur, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.“

Touristen als Sündenbock

Christiane Gey ist alles andere als eine ängstliche Frau. Sie kennt Gepflogenheiten, Tricks und Fallstricke in dem nach China bevölkerungsreichsten Land der Welt – und nutzt sie so gut sie kann, um ihre Ziele zu erreichen. Seit mehr 13 Jahren verbringt sie jedes Jahr acht Monate bei ihren Kindern, gibt ihnen ein Zuhause, Essen, Bildung. Sie ist hoch angesehen wegen ihres Engagements und der Hilfe, die sie leistet. Doch die Corona-Krise und der scharfe Wind, der ihr neuerdings entgegenweht, machen ihr Angst.

Von jenem Tag im Februar an sei es dann Schlag auf Schlag gegangen. „Von einem auf den anderen Tag schlossen alle Hotels, und die Ausländer wurden vor die Tür gesetzt. Alle Läden waren plötzlich zu, niemand durfte mehr raus.“ Woher die Menschen Lebensmittel bekommen sollten, sei unklar gewesen. Touristen seien beschimpft, bespuckt und mit Steinen beworfen worden, weil man sie als Schuldige an der Krise ausgemacht habe.

Auf offener Straße verprügelt

Der Besitzer eines Ladens, in dem Gey seit mehr als zehn Jahren Nahrungsmittel kauft, verweigerte ihr den Zutritt. Eine Freundin, die seit 20 Jahren ebenfalls Kinderhäuser in Indien betreibt und immer in demselben Hotel wohnt, sei vor die Tür gesetzt worden. Einige Medien hatten verbreitet, dass Touristen das Virus nach Indien eingeschleppt hätten und man Kontakt vermeiden solle.

Mehr als 100 000 Menschen haben sich offiziellen Angaben zufolge mit dem Coronavirus infiziert. Breite es sich in den Slums aus, werde es richtig schlimm, glaubt Christiane Gey. Wohl auch deshalb gehe die Polizei so rigoros vor. Wer keinen guten Grund habe, sich im Freien aufzuhalten, der werde auf offener Straße verprügelt.

Darf nicht vor die Tür

Sie habe das Kinderhaus auf Anordnung der Behörden verlassen müssen, aber wohin sie gehen solle, habe man ihr nicht gesagt. Nun lebe sie in einer Pension, die ihr ein Freund vermittelt habe. 15 Quadratmeter, ein Bett, ein Schrank, ein Tisch und ein Balkon. Sie wird von einem Angestellten versorgt, der „panische Angst“ vor ihr, der Ausländerin, habe. Inzwischen seien die Läden zwar wieder geöffnet, und alle zwei Tage könne man Grundnahrungsmittel kaufen.

Aber Christiane Gey darf nicht vor die Tür. Per Telefon und WhatsApp weist sie die Angestellten ihres Kinderhauses an, was sie einkaufen sollen. Elf Kinder im Alter von neun bis 15 Jahren leben dauerhaft im Kinderhaus, weitere 14 werden bei ihren Familien versorgt. Sie dürfen derzeit nicht ins Kinderhaus kommen, zu groß ist die Gefahr einer Ansteckung. Trotz der Widrigkeiten harrt Christiane Gey aus und verbreitet Optimismus. „Eigentlich hätte ich am 8. Mai nach Hause fliegen sollen, aber mein Flug wurde kurzerhand gestrichen.“ Ein Flug mit KLM nach Amsterdam sei „rasend schnell ausgebucht“ gewesen.

Von der indischen Regierung gebe es keinerlei Informationen, man müsse sehen, wie man klarkomme. „Kein Problem, ich mache jeden Tag Yoga und kann mich von hier aus um alles kümmern“, beschwichtigt sie. Und dieses „Alles“ umfasst längst nicht mehr nur die Versorgung der Kinder. Denn zusätzlich kümmert sich Childsrights auch noch um rund 300 arme Familien in den umliegenden Dörfern. Mitarbeiter und Helfer fahren täglich herum, um die Menschen mit Essen zu versorgen, das aus Spenden bezahlt wird. „Wir finden erschreckende Zustände vor, ich frage mich, wie manche es überhaupt geschafft haben, noch am Leben zu sein.“ Ihrer Einschätzung nach verhungerten im Moment mehr Menschen als am Virus stürben.

http://childsrights.es/de/

christianegey@hotmail.com