Grossbritanniens «verrücktestes politisches Wochenende seit langem» – was ist passiert?
Grossbritannien hat gerade das «verrückteste politische Wochenende seit langem» hinter sich. Was ist passiert? Eine Chronologie des Wochenendes.
Freitag: die Meldung
Der wichtigste Berater des britischen Premierministers Boris Johnson, Dominic Cummings, soll gegen die Ausgangsbeschränkungen in dem Land verstossen haben. Das berichteten der «Guardian» und der «Daily Mirror» am Freitagabend. Cummings soll demnach Ende März von London in die rund 430 Kilometer entfernte nordostenglische Grafschaft Durham zu seinen Eltern gefahren sein – zusammen mit seiner an Covid-19 erkrankten Frau und seinem 4-jährigen Sohn. Cummings selbst zeigte bereits Symptome, kurz danach erkrankte er nach eigener Darstellung selbst daran.
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Nur rund eine Woche vorher hatte die Regierung zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie strenge Auflagen für die Bewegungsfreiheit erlassen. Das Reisen war mit Ausnahme von dringenden Gründe nicht erlaubt. Wer Symptome aufweist, muss zudem sieben Tage in Selbstisolation verbringen.
Samstag: Rücktrittsforderungen
Ein Regierungssprecher verteidigte das Verhalten von Cummings am Samstag. Es sei für ihn unumgänglich gewesen, die Betreuung seines jungen Kindes sicherzustellen, hiess es in einer Mitteilung. Seine Schwester und Nichten hätten Hilfe angeboten, als seine Frau Symptome von Covid-19 gezeigt habe und auch er mit einer Erkrankung habe rechnen müssen. Cummings sei überzeugt, vernünftig und rechtmässig gehandelt zu haben. «Sein Handeln war in Einklang mit den Coronavirus-Richtlinien.»
Harsche Kritik kam von der Opposition. «Die Position Dominic Cummings' ist vollkommen unhaltbar – er muss zurücktreten oder rausfliegen», sagte der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei SNP im britischen Parlament, Ian Blackford. Der konservative Regierungschef habe nun ernste Fragen zu beantworten, so Blackford am Samstag auf Twitter.
Die Labour-Abgeordnete Tulip Siddiq sagte dem «Guardian», die Regierung müsse nun rasch Erklärungen liefern. «Die britische Öffentlichkeit erwartet nicht, dass es eine Regel für sie gibt und eine andere für Dominic Cummings», sagte die Abgeordnete.
Rückendeckung bekam Cummings von Staatsminister Michael Gove. «Sich um seine Frau und sein Kind zu kümmern, ist kein Verbrechen», twitterte er. Aussenminister Dominic Raab warf Kritikern vor, den Vorfall für politische Grabenkämpfe ausschlachten zu wollen.
Sonntag: Johnson verteidigt Cummings
Am Sonntagnachmittag folgte dann eine Pressekonferenz des Premiers. Nach einem ausführlichen Gespräch mit Cummings sei Johnson zu dem Schluss gekommen, dass Dominic Cummings «den Instinkten eines jedes Vaters gefolgt» sei. Er habe «in jeder Hinsicht verantwortlich, legal und mit Integrität» gehandelt, so der Regierungschef. Forderungen nach einem Rauswurf Cunning's wies er zurück.
Doch Kritiker fürchten, die Glaubwürdigkeit der Regierung könne durch die grosszügige Auslegung der Lockdown-Regeln für den Regierungsberater ernsthaften Schaden genommen haben. Mehrere Experten, die nach eigenen Angaben die Regierung bisher beraten hatten, äusserten sich besorgt. Innerhalb von ein paar Minuten habe Johnson «alle Ratschläge, wie man Vertrauen aufbaut und das Einhalten der Massnahmen sicherstellt, die für die Kontrolle von Covid-19 notwendig sind, in die Tonne getreten», twitterte beispielsweise der Psychologe Stephen Reicher von der St.-Andrews-Universität in Schottland.
Kritik vom Civil Service
Eine ungewöhnlich kritische Bemerkung über Premierminister Boris Johnson vom offiziellen Account der britischen Berufsbeamten (Civil Service) hat nach Johnsons Pressekonferenz für Aufsehen gesorgt. Darin hiess es: «Arrogant und beleidigend. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, mit diesen Wahrheitsverdrehern zusammenzuarbeiten?»
Wer die Nachricht geschrieben hatte, war zunächst unklar. Die Regierung kündigte an, dem kritischen Tweet nachzugehen. «Ein nicht autorisierter Tweet wurde heute Abend von einem Regierungskanal gesendet. Die Nachricht wurde entfernt und wir untersuchen die Angelegenheit.» Doch damit handelte sie sich noch mehr Spott ein.
Harry-Potter-Autorin J.K. Rowling antwortete darauf: «Wenn Sie rausgefunden haben, wer es war, lassen Sie es uns wissen, ich will denen ein Jahresgehalt geben.» Ex-Fussballstar und BBC-Moderator Gary Lineker twitterte: «Eine nicht autorisierte Reise wurde von einem Regierungsberater unternommen. Der Berater wird nicht entfernt und wir untersuchen die Angelegenheit nicht.»
Montag: Kommt noch mehr?
Die einflussreiche Boulevardzeitung «Daily Mail» titelte am Montag zu Bildern von Johnson und Cummings: «Auf welchem Planeten leben die eigentlich?» Oppositionschef Keir Starmer von der Labour-Partei zeigte sich von Johnsons Vorgehen enttäuscht. «Das war ein grosser Test für den Premierminister und er ist gerade durchgefallen», sagte Starmer in einem BBC-Interview. Millionen Menschen hätten qualvolle Entscheidungen treffen müssen, beispielsweise Angehörige nicht zu besuchen, und nicht zu Beerdigungen zu gehen, sagte der Labour-Chef.
Nicht auszuschliessen scheint, dass in der Sache noch weitere Details an die Öffentlichkeit gelangen. Der «Guardian» und der «Daily Mirror» berichteten am Sonntagabend, ein Augenzeuge, der Cummings am 12. April an einem Ausflugsziel rund 50 Kilometer vom Wohnhaus seiner Eltern entfernt gesehen haben will, habe inzwischen Anzeige erstattet. Auch für einen weiteren Aufenthalt Cummings' in Durham am 19. April gibt es demnach einen weiteren Augenzeugen. Die Regierung stritt weitere Aufenthalte Cummings in Durham ab.
Übrigens: Am Montagmorgen tauchte vor Cunnings Haus ein Van mit einem Bildschirm auf, auf dem das «Stay at home»-Video von Johnson abgespielt wird.
Britischer Humor vom Feinsten:
Update Montagmittag
Boris Johnson gerät nach der Rückendeckung für Cummings selbst immer mehr unter Druck. Ausser der Opposition forderten inzwischen mehr als ein Dutzend Parlamentarier aus Johnsons Konservativer Partei sowie Kirchenvertreter und Ärzte den Rücktritt Cummings.
Der Premier behandle die Menschen «wie Trottel» und «ohne Respekt», twitterte der Bischof von Leeds, Nicholas Baines. Ausser ihm kritisierten noch viele andere Geistliche der Kirche von England Johnsons und Cummings Verhalten.
Auch in der Tory-Partei bröckelt die Unterstützung. Der frühere Staatssekretär Paul Maynard nannte das Verhalten des Chefberaters «völlig unhaltbar». Der Abgeordnete David Warburton sagte dem Sender BBC, Cummings «schädigt die Regierung und das Land». Der Mediziner Dominic Pimenta twitterte ein Foto von sich in voller Schutzausrüstung und schrieb: «Wenn er (Cummings) nicht aus dem Dienst ausscheidet, dann mache ich das.»
(jaw/sda/dpa)
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