V-Erholung oder Dauermisere?

Die erste Welle der Ansteckungen mit dem Coronavirus klingt in vielen europäischen Ländern endlich ab. Doch wie geht es weiter? Einige Experten rechnen mit einer langen Wirtschaftskrise. Andere erwarten eine V-förmige Erholung; sobald die Gesundheitskrise überstanden sei, werde die Wirtschaft schnell zum Vorkrisenniveau zurückfinden. Darauf scheinen auch die Aktienmärkte zu setzen. Von seinem Höchst bis zu dem Tag, an dem dieser Artikel geschrieben wurde, hat der Swiss Market Index SMI 16% eingebüsst – ein zwar beachtliches, aber doch begrenztes Minus.

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Fabrizio Zilibotti ist Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Yale.

Warum ist die Unsicherheit so gross? Erstens ist es sehr schwierig vorherzusagen, welchen Verlauf die Gesundheitskrise nehmen wird. Erweist sich die derzeitige Eindämmung der Verbreitung des Virus als robust genug? Höchstwahrscheinlich, ja. Manche Länder allerdings schlagen eine riskante Strategie ein. Deutschland und die Schweiz haben den Lockdown erst dann zu lockern begonnen, als die Zahl der aktiven Fälle deutlich zurückgegangen war. Italien und Spanien hingegen unternehmen erste Lockerungsschritte, obwohl der Höhepunkt der Ansteckungen noch nicht weit zurückliegt.

In Ländern wie Grossbritannien oder Schweden, die zumindest am Anfang einen Sonderweg eingeschlagen hatten, wütet die Pandemie nach wie vor. Selbst wenn es keinen neuen Ausbruch im Sommer gibt, herrscht weitherum die Angst vor einer zweiten Ansteckungswelle im November/Dezember, noch bevor eine Impfung verfügbar ist. Dannzumal dürften die Gesundheitssysteme besser vorbereitet sein als beim ersten Mal. Es könnte aber sein, dass die Bevölkerung Massnahmen dann ablehnender gegenübersteht und weniger gewillt ist, den Empfehlungen der Wissenschaftler Folge zu leisten. Die Politik wiederum könnte dann geneigt sein, sich dem Druck aus der Bevölkerung eher zu beugen. Kurz gesagt: Der weitere Verlauf der Pandemie ist eine stetige Unsicherheitsquelle.

Aus Italien und Spanien fliesst Kapital ab

Dann sind da noch die ökonomischen Faktoren. Die Argumentation für eine rasche Erholung lautet, die Gesundheitskrise habe die Wirtschaft nicht fundamental erschüttert. Die technologische Entwicklung ist nicht unterbrochen, die Wirtschaftsaktivität hat wegen des Social Distancing bloss vorübergehend nachgelassen. Solange der Staat die am schwersten betroffenen Haushalte unterstützt und es den Unternehmen ermöglicht, den Sturm zu überstehen, wird danach schnell Normalität einkehren. Die Unterstützungsmassnahmen bringen eine höhere Staatsverschuldung mit sich, was aber dank dem bald einsetzenden Wirtschaftswachstum kein gravierendes Problem ist.

Doch so rosig ist die Situation vielleicht nicht. Die Vergangenheit wird sich irgendwann rächen. In vielen Branchen – im Transportwesen etwa oder im Tourismus – wird die Erholung sehr schleppend verlaufen. Als Reaktion auf die Unsicherheit und die eingetrübten Aussichten könnten die Haushalte ihren Konsum zurückfahren und die Unternehmen ihre Investitionspläne stutzen. Die Krise könnte viele gute Unternehmen in den Untergang treiben, was wiederum die Arbeitslosenrate hochschnellen lässt. Deswegen fordern manche Ökonomen eine sehr proaktive Fiskal- und Geldpolitik bis hin zu Helikoptergeld – das bisher zwar eher für schlechte bzw. unverantwortliche Geldpolitik stand, heute aber zahlreiche Anhänger findet. Gemäss den Befürwortern braucht man sich um ein Wiederaufflammen der Inflation nicht zu sorgen.

Kann eine lockere Geldpolitik allein die Lösung sein? Die Aufgabe dürfte komplexer sein, als nur die aggregierte Nachfrage aufrechtzuerhalten. Betrachten wir mal die Europäische Union. Der Covid-Schock ist asymmetrisch, die einzelnen Staaten bewältigen die Krise unterschiedlich gut. In Italien, Spanien und, bis zu einem gewissen Grad, Frankreich sind Bruttoinlandprodukt (BIP) und Beschäftigung viel stärker eingebrochen als in Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern. Besonders in Italien ist die Lage kritisch. Schon vor Beginn der Krise belief sich seine Verschuldung auf 135% des BIP. Im Laufe des Jahres dürfte dieser Wert auf 155 bis 160% klettern, weil zum einen das BIP sinkt und zum anderen die Ausgaben steigen. Die Ratingagentur Fitch hat Italiens Rating bereits auf nur noch eine Stufe über Ramschniveau herabgesetzt. Aus Italien wie auch Spanien ist ein massiver Kapitalabfluss im Gang. Paradoxerweise machen die Risiken die Politiker erst recht selbstsicher und zuversichtlich, dass die EU ihren Forderungen nachgeben wird. Das Argument lautet, wieder einmal, too big to fail: Eine weitere Herabstufung Italiens könnte eine Finanzkrise auslösen, die den Bestand der EU selbst gefährden würde.

Kultur der Abhängigkeit

Was würde ein Bail-out für die Empfängerländer bedeuten? Sollte er tatsächlich einen Wiederaufschwung auslösen, wäre er die Kosten wohl wert. Leider ist nicht ersichtlich, dass es eine Strategie gibt, die darüber hinausgeht, bloss so viel Geld wie möglich zu erheischen. Über einzelne Interventionen wird nicht diskutiert. So hat die italienische Regierung zum Beispiel bereits angekündigt, im Juni die volle Kontrolle über die Fluggesellschaft Alitalia zu übernehmen, um sie vor dem Bankrott zu bewahren. Allerdings leidet Alitalia, anders als andere Airlines, nicht erst seit der Coronakrise. Sie schreibt schon seit zwanzig Jahren Verlust. Die für den Steuerzahler daraus resultierende Belastung schätzte Mediobanca im Jahr 2015 auf 7,4 Mrd. €. Seither hat sich der Geldabfluss fortgesetzt. Im Dezember 2019 gewährte die Regierung der Airline ein Darlehen von 400 Mio. €. Wirtschaftsminister Patuanelli beteuerte, weitere Bail-ous werde es nicht geben. In jener Zeit schrieb Alitalia pro Tag über 1 Mio. € Verlust.

Absehbar ist, dass der grösste Teil der Staatsausgaben in Transfers für Haushalte fliessen wird. Unterstützung für die Bedürftigen ist in der kurzen Frist eine Notwendigkeit. Wie aber geht es weiter, wenn die Wirtschaft wieder anzieht? Italien wie auch Spanien haben keinen besonders guten Track Record, was eine Kultur der Abhängigkeit anbelangt. Grosse Teile ihrer Bevölkerung, besonders in den ärmsten Regionen im Süden, neigen dazu, ihr Verhalten an einen niedrigen wirtschaftlichen Standard mit staatlichen Unterstützungsleistungen und gelegentlicher Beschäftigung im informellen Sektor anzupassen. Mitte der Achtzigerjahre, Mitte der Neunzigerjahre und nach 2009 ist die Arbeitslosenrate in Spanien auf mehr als 20% hochgeschossen.

Krise wird verlängert

Der Verfall sozialer Normen könnte eine Hysterese der Arbeitslosigkeit ankurbeln, wie früher bereits geschehen (das heisst, die Wirkung dauert an, auch nachdem die Ursache weggefallen ist). Deshalb sollte das Ziel sein, die Leute im Arbeitsmarkt zu halten, etwa mit Steuererleichterungen und Freibeträgen für Angestellte mit niedrigem Lohn. Doch diese Aspekte tauchen im gegenwärtigen politischen Diskurs nicht auf, und jegliche Erwähnung riefe Missbilligung und Kritik hervor. Die Regierungen finden es einfacher und populärer, den Menschen, die zu Hause bleiben, Schecks auszustellen. So kann es sein, dass mit den EU-Transfers (bzw. den subventionierten Krediten) schlecht ausgestaltete Wohlfahrtsprogramme finanziert werden, die zum Fortdauern der Krise beitragen.

Die Schweiz ist zwar nicht direkt in den EU-Haushalt eingebunden, aber das bedeutet noch lange keine Entwarnung. Das Land ist bisher zwar ganz gut durch die Krise gekommen, doch die Schweizer Wirtschaft von den künftigen Turbulenzen in der Eurozone abzuschotten, dürfte schwierig sein. Ein Wiederaufflammen von Inflation oder Finanzinstabilität im Euroraum wird einen Kapitalzufluss und eine Aufwertung des Frankens nach sich ziehen – und zwar ausgerechnet dann, wenn die Schweizer Wirtschaft eher einen Stimulus braucht.

Das optimistische Szenario einer V-förmigen Erholung ist so betrachtet alles andere als gewiss. 2021 könnte sich als schwieriger herausstellen, als viele Auguren meinen.