Softwareplattformen
Autos mit Hirn – Wie sich Daimler, VW und BMW neu erfinden
Verbrennungsmotoren taugen für die Autobauer nicht mehr zur Alleinstellung. Im Kampf gegen Google und Tesla werden Betriebssysteme zur Überlebensfrage.
by Markus Fasse, Martin Murphy, Franz HubikStuttgart, München. Mit der Coronakrise hat sich für Ola Källenius die Welt verändert. „Covid-19 hat die Achillesferse der Autoindustrie offengelegt“, konstatierte der Daimler-Chef Mitte April in einer Videobotschaft an seine 300.000 Mitarbeiter. Lange Entwicklungszyklen, immense Investitionskosten und ein insgesamt zu Hardware-lastiges Geschäftsmodell machen den Mercedes-Hersteller aus Sicht des Schweden „verwundbar“.
Der 1,95 Meter große Manager stellt in der Krise grundlegende Fragen: „Was macht unser Unternehmen besonders? Wofür kaufen die Leute unsere Produkte? Darauf müssen wir uns fokussieren“, sagt Källenius. Der 50-Jährige verschiebt dafür die Prioritäten des PS-Konzerns; spricht gar von einem „Neubeginn“. Vorfahrt haben demnach Elektromobilität und Digitalisierung.
Schwäbische Ingenieurskunst, so schwebt ihm vor, soll künftig nicht nur für millimetergenaue Spaltmaße, blitzschnelle Beschleunigung und höchste Fahrsicherheit stehen, sondern zugleich für die beste Software. Die Entwicklung solcher Schlüsseltechnologien stünde auch in Krisenzeiten „nicht zur Disposition“, erklärt Källenius. Der Mercedes-Frontmann strebt vielmehr auch im Digitalen so rasch als möglich nach Perfektion. Denn er weiß nur zu gut: Das Geschäft der Autobauer ändert sich gerade fundamental.
Leistungsstarke Verbrennungsmotoren scheiden als Alleinstellungsmerkmal von Deutschlands Vorzeigeindustrie aus. Schlimmer noch: Mit Elektroantrieben können sich die Hersteller kaum vom Wettbewerb differenzieren. „Das ist Me Too“, sagt ein hochrangiger Branchenvertreter. Beim Design und Karosseriebau sind Daimler, BMW und Volkswagen zwar führend. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal bietet künftig aber die Software.
Das Auto der Zukunft fährt mit einem Zentralcomputer, einer obersten Instanz für Motor, Klima und Navigation. Ständig mit dem Internet verbunden, tauscht es Daten aus und wird so zum Ausgangspunkt neuer Geschäftsmodelle. Software wird damit zur Überlebensfrage für die Industrie – und ausgerechnet hier hinkt das heimische Trio Angreifern wie Tesla hinterher.
In den Konzernzentralen in Wolfsburg, Stuttgart und München rollt die Gegenoffensive an. „Tech oder Tod“, lautet die Parole von VW-Chef Herbert Diess. „Autos werden zu Smartphones auf Rädern“, bekundet Daimler-Chef Källenius. Und BMW-Boss Oliver Zipse hält seine Industrie für weit mehr als reine „Blechbieger“. Drei Manager – eine Sichtweise.
Die Folge: VW, Daimler und BMW arbeiten unabhängig voneinander an eigenen Softwareplattformen, die so etwas wie das Gehirn und das zentrale Nervensystem der Fahrzeuge von morgen darstellen. Wer diese Betriebssysteme am nutzerfreundlichsten programmiert, gewinnt das Rennen um die Mobilität der Zukunft und sichert sich lukrative Erlöse mit neuen Services, so das Kalkül.
Die Strategien von Diess, Källenius und Zipse sind aber nicht deckungsgleich – das könnte auf dem Weg in die Zukunft entscheidend werden.
Der Kaufmann
Während sein Vorgänger Dieter Zetsche stets nach Absatzrekorden strebte, lautet die Maxime von Daimler-Chef Källenius: „Marge geht vor“. Der Vater von drei Söhnen will das traditionelle Business der Marke mit dem Stern folgerichtig um lukrative Softwaredienste erweitern, wie er im Handelsblatt-Interview sagt.
Statt Kunden nur alle paar Jahre an neues Auto zu verkaufen, hofft Källenius, bald viel Geld mit Softwareupdates zu verdienen, mit denen Mercedes-Fahrer auch nachträglich verbesserte Fahrassistenzsysteme oder mehr elektrische Reichweite für ihre E-Autos erwerben können.
Das Potenzial ist riesig. Källenius glaubt, die Digitalerlöse könnten „relativ schnell ein Volumen von mehreren Hundert Millionen Euro erreichen“. Sein Ziel: Mit leicht skalierbaren Features Traumrenditen erzielen. Ähnlich wie der iPhone-Hersteller Apple oder der Elektropionier Tesla will Daimler das Kunststück vollbringen, den Anteil des Servicegeschäfts bei insgesamt steigenden Erlösen in den kommenden Jahren drastisch zu erhöhen.
Langfristig könnte die voll vernetzte Sternenflotte dann Teil eines neuen Wirtschaftssystems werden, in dem Menschen Mobilitätsdienstleistungen einfach nach Bedarf hinzu buchen.
Gelingt das Vorhaben, könnte der Skandinavier nicht nur eine gesündere Geschäftsbasis bei dem Dax-Konzern etablieren, sondern hätte endlich auch eine Kapitalmarktstory parat, um die dümpelnde Aktie der Schwaben in neue Höhen zu katapultieren. Die Voraussetzung dafür ist, dass das konzerneigene Betriebssystem MB.OS einschlägt.
Erste Elemente des neuen Betriebssystems baut Daimler in die neue S-Klasse ein, die zum Jahresende auf den Markt kommen soll. Bis Ende 2024 soll dieses „Windows fürs Auto“ alle Neuwagen von Mercedes steuern und ständig mit digitalen Neuerungen versorgen.
Der Traditionalist
BMW-Chef Oliver Zipse ist niemand, der blindlings Trends hinterherjagt. Er sieht in der ständigen Suche nach dem nächsten großen Ding sogar die Gefahr, sich zu verheddern und die eigenen Stärken aus den Augen zu verlieren. Während sein Vorgänger Harald Krüger noch einen „Gamechanger“ für Mobilitätsdienste kreieren wollte, ist Zipse bescheidener. Er will BMW auf den Bau von Autos fokussieren.
Der 56-Jährige vergleicht seine Strategie gerne mit der Luftfahrtindustrie. BMW sei demnach mehr wie Airbus denn wie Lufthansa. Man wolle Flugzeuge bauen, keine Airline betreiben.
Your Now – die Gemeinschaftsfirma, in der BMW und Daimler ihr Geschäft für Mitfahrdienste, Carsharing oder Parkplatzsuche gebündelt hat, sieht Zipse kritisch. Schließlich belastet das App-Potpourri die Bilanz von BMW – alleine 2019 lag der negative Beitrag bei 662 Millionen Euro. Software ist für Zipse letztlich nur als Teil des Autos als Gesamtpaket relevant. Dennoch wähnen sich die Münchener im Digitalen längst weiter als andere.
Seit 2018 rollt BMW sein Betriebssystem OS7 über seine Neuwagenflotte aus. „Over the Air“ soll sich damit jede Programmzeile im Auto ändern lassen. Erstmals „flasht“ BMW nun 500.000 Autos über das Internet mit Softwareupdates, bietet neue Versionen des Sprachassistenten, der Geschwindigkeitsregulierung und eine elektronische Parkhilfe.
„Das wird die größte Kampagne ihrer Art, die je ein europäischer Hersteller over the Air umgesetzt hat“, sagt der scheidende BMW-Entwicklungsvorstand Klaus Fröhlich. Sein Nachfolger Frank Weber soll das Betriebssystem dahinter Stück für Stück weiterentwickeln. Evolution statt Revolution.
Der Revoluzzer
VW-Chef Herbert Diess hält nichts von zu viel Klein-Klein. Seine Strategie geht weit über jene von Daimler und BMW hinaus. Er will den Eigenanteil an der Entwicklung von Software von derzeit unter zehn Prozent bis Mitte der Dekade auf über als 60 Prozent steigern.
Mehr noch: Diess bietet Wettbewerbern sein in Planung befindliches Betriebssystem sogar zur lizensierten Nutzung an. Mit seiner Marktmacht als weltweit größter Fahrzeughersteller hofft VW so das beste und effizienteste System in der Branche zu programmieren.
Das Ziel von Diess ist, Volkswagen von einem Industriekonzern in ein Hightech-Unternehmen zu verwandeln – mit entsprechender Marktkapitalisierung. Als Vorbild dient ihm der US-Wettbewerber Tesla. Die von Elon Musk gegründete Firma fertigt zwar Autos; diese sind aber reinste Datenfabriken.
„Tesla sammelt mit seinen 800.000 Autos auf der Straße schon heute mehr Daten als wir mit unseren 100 Millionen Autos auf der Straße”, bläute der VW-Chef seinen Top-Managern ein. Die Amerikaner, so sein Fazit, sind demnach Marktführer. Der Gigant Volkswagen, der Ford und Toyota deklassiert hat, wird da auf einmal ganz klein.
Ablesen lässt sich die Marginalisierung der Riesen am Aktienkurs. Der Umsatzzwerg Tesla ist mit umgerechnet rund 140 Milliarden Euro an der Börse aktuell mehr wert als VW, Daimler und BMW zusammen. Ein Unding für Diess. Er will den Wert der Wolfsburger verdoppeln. Dafür, so glaubt der 61-Jährige, muss aus dem Autobauer in Windeseile ein Techvorreiter werden – mit einer Softwareplattform als Fundament.
Offenes Rennen gegen Google
Anders als in früher müssen die Deutschen im Softwarebereich auch Angriffe von Big-Data-Konzernen aus China oder dem Silicon Valley abwehren, die mit aller Macht in die Fahrzeuge drängen. Vor keinem Konzern fürchten sich Daimler, BMW und VW beim Kampf um das Auto-Hirn so sehr wie vor Google.
Der stille Riese aus dem kalifornischen Mountain View inszeniert sich gerne als freundlicher Helfer der Fahrzeugindustrie. Mit „Android Auto“ bietet der Konzern bereits ein System an, um Apps und Informationen auf dem Smartphone ins Fahrzeug zu spiegeln. Es ergänzt die Infotainment-Angebote der Autobauer, ersetzt sie aber nicht.
Das ändert sich nun. Mit „Android Automotive OS“ rollt Google gerade ein Multimediasystem für Fahrzeuge aus, das die komplette Cockpitelektronik steuert. Erstmals zum Einsatz kommt es im Polestar 2. Der Mittelklasse-Elektrowagen der Volvo-Tochter kann seit einigen Wochen bestellt werden.
Auch andere Branchengrößen wie GM, Fiat-Chrysler oder Renault-Nissan setzen künftig bei ihren Modellen auf das ganzheitliche Multimediasystem von Google, das Nutzern auch ohne Smartphone den Zugriff auf Google Maps oder Google Assistent ermöglicht.
Der Vorteil bei solch einem Vorläufer für eine Softwareplattform aus dem Regal: Sie kostet viel weniger. Der Nachteil: „Man gibt Daten preis“, sagt Wolfgang Bernhart, Seniorpartner bei Roland Berger: „Die große Angst der Autohersteller dabei ist, sich langfristig der Chance zu berauben, neue Erlösquellen mit Services zu erschließen“.
Tesla sammelt mit seinen 800.000 Autos schon heute mehr Daten, als wir mit unseren 100 Millionen Autos.Herbert Diess (CEO Volkswagen AG)
Der ausgewiesene Kenner der Auto- und Techindustrie ist sicher: „Aufgrund des hohen Entwicklungsaufwands wird es am Ende wohl nicht einmal eine Handvoll Anbieter von Softwareplattformen fürs Auto geben. Das Rennen ist offen“.
Mit „Android Automotive“ dringt Google aber bereits tief ins Software-System von vernetzten Fahrzeugen ein und erhält mehr und mehr Zugriff auf Daten. Bei dem System dürfte es sich zudem nur um einen Zwischenschritt am Weg zu einem vollumfassenden Betriebskonzept handeln. Niranjan Manohar, Autoexperte bei der Marktforschungsfirma Frost & Sullivan, mutmaßt in einem Blogpast, Google wolle sich womöglich als „zentraler Gateway-Anbieter“ für unterschiedliche digitale Dienste in den künftigen Smart Cities der Welt positionieren.
Die Kalifornier könnten so auf lange Sicht den Verkehrsfluss von Robotertaxis und Drohnen in modernen Städten kontrollieren und klassische Fahrzeughersteller zu Hardwarezulieferern degradieren.
Es ist das Horrorszenario für die deutsche Autoindustrie. Um zu verhindern, von Google irgendwann in Geiselhaft genommen zu werden, wollen die Konzerne im Zweifel paktieren. Erste Gespräche zwischen hochrangigen Managern von VW und Daimler gab es bereits. Der Coronaschock könnte den Flirt nun intensiveren.
„Die Hemmungen für Partnerschaften aller Art fallen gerade“, heißt es in Unternehmenskreisen. Die wirtschaftlichen Verwerfungen infolge der Pandemie würden den Druck auf die Autoindustrie „multiplizieren“. Für übertriebenen Stolz gibt es spätestens jetzt keinen Anlass mehr, so der Tenor.
Es ist an der Zeit zu handeln – aber der Einstieg in die neue Zeit ist beschwerlich. Wie steinig der Weg ist, bekam VW gerade erst zu spüren. Die Niedersachsen mussten die Auslieferung ihres Kassenschlagers Golf 8 wegen Probleme mit der Software stoppen. Dabei handelt es sich zwar nicht um das neue Betriebssystem; peinlich ist die Panne aber allemal.
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