Corona-Hilfen bei "Anne Will"

"Das finde ich völlig unverantwortlich"

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Die Zukunft der europäischen Staatengemeinschaft nahm viel Platz in der Diskussion bei "Anne Will" ein.(Foto: ©NDR/Wolfgang Borrs)

Über das Wie herrscht noch Uneinigkeit. Klar ist nur, dass die EU-Staaten Milliardensummen in die Wiederbelebung der Wirtschaft investieren müssen. Was das auch für die einzelnen Menschen bedeutet, diskutieren die Gäste bei "Anne Will".

Das Problem ist bekannt. Die Ursache auch. Doch wie die EU aus dem wirtschaftlichen Notstand infolge der Coronavirus-Pandemie wieder herauskommt, darüber lässt sich trefflich streiten. Während sich Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron einen 500-Milliarden-Euro-Rettungsfonds und Zuschüsse für betroffene Staaten vorstellen, plädieren die "sparsamen Vier" um Österreichs Kanzler Sebastian Kurz für befristete Kredite, gekoppelt an klare Vorgaben, für was das Geld ausgegeben werden soll. Sie wollen eine Vergemeinschaftung von Schulden um jeden Preis verhindern. Wie die EU-Kommission zu all dem steht, wird sich Mitte nächster Woche zeigen.

Zuvor diskutieren die Gäste bei "Anne Will", wie sie sich das mit der konjunkturellen Reanimation vorstellen. Für Bundesfinanzminister Olaf Scholz ist der Merkel-Macron-Plan - wie sollte es in seiner Position auch anders sein - zurzeit genau richtig. Es gebe schon genügend anderweitige Kreditprogramme auf EU-Ebene. Nun brauche es etwas, "das unmittelbar hilft beim Wiederaufbau". Auf deutscher Ebene nimmt der Sozialdemokrat von konkreten Summen oder gar Obergrenzen für neue Schulden Abstand. Auf die provokante Frage von Moderatorin Anne Will, ob jetzt mit Milliarden rumgeworfen wird, als gäbe es kein Morgen mehr, entgegnet er: "Man kann überhaupt nicht mit dem Geld so rumwerfen. Das finde ich völlig unverantwortlich." Insgesamt belaufen sich die einkalkulierten Ausgaben und Garantien des deutschen Fiskus auf 1,25 Billionen Euro, rechnet die Will-Redaktion vor.

Carsten Linnemann, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Union im Bundestag, blickt bereits auf die Zeit nach der Pandemie. Er prophezeit: Spätestens dann werde es einen Wettbewerb mit den USA, China und anderen Wirtschaftsmächten geben, "der sich gewaschen hat". Deutschland sei dahingehend auf die EU angewiesen. Aber diese sei nun mal als Staatenbund und nicht als Bundesstaat konzipiert. Jeder hafte für seine eigenen Schulden. "Wenn wir Geld geben, muss es einen Mehrwert für Europa haben und es darf nicht in den Ländern versickern." Soll heißen: Der deutsche Steuerzahler soll nicht auf Umwegen das spanische Rentensystem finanzieren.

Die Vertreterin der sogenannten Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, stellt sich im Gegensatz zu dem CDU-Politiker klar auf die Seite von Scholz/Merkel/Macron. Es brauche Zuschüsse und nicht Kredite. Letztere brächten Länder langfristig wieder in Schwierigkeiten. Zudem sollte das Narrativ innerhalb der EU geändert werden. Es sei nicht entscheidend, welcher Mitgliedsstaat Nettozahler und welcher -empfänger ist. Vielmehr müsse der Fokus auf Projekte gelegt werden, die Europa voranbringen. Hier klingt sie wiederum sehr ähnlich wie Linnemann. Als Beispiele nennt sie den "Green Deal", Gesundheit und Digitalisierung.

Dann ist das Ende der EU vorprogrammiert

Es gehe zudem darum, Länder zu unterstützen, die unverschuldet durch die Krise besonders gebeutelt sind, etwa weil kein Tourismus stattfindet. "Wenn wir nicht schaffen, dass auch die Staaten, die momentan besonders schlimm betroffen sind, durch die Krise gut durchkommen, dann werden wir immer weiter auseinanderdriften", mahnt die Wirtschaftsprofessorin. Deutschland werde es schaffen, da sei sie zuversichtlich. Aber andere Staaten nicht - und dann sei das Ende der EU vorprogrammiert.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock stellt sich die Frage, wie es schnell gelingen kann, den gemeinsamen Binnenmarkt - von dem vor allem Deutschland massiv profitiert - wieder "auf die Beine zu bringen". Es nütze nun überhaupt nichts, wenn deutschen Zuliefer-Firmen vom Staat geholfen wird, sofern in anderen Ländern wie Italien die Branche kollabiert. Es sei ureigenstes Interesse Deutschlands, dass Europa stark ist. Es handele sich bei der gegenwärtigen Pandemie um die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn nicht der Mut aufgebracht werden könne, Dinge, die in der Vergangenheit schiefliefen, nun besser zu machen, dann sei das fatal. "Wir sind mit der Eurokrise schon einmal als Europäer wirklich am gemeinsamen Abgrund vorbeigeschlittert und wir sollten nicht jedes Mal die Feuerwehr rufen, sondern eine richtige Brandmauer bilden."

In diesem Zusammenhang spricht Baerbock von mehr Verantwortung auf europäischer Ebene - etwa in der Außenpolitik. Dazu müsse auch das Prinzip der Einstimmigkeit bei Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs durch ein Mehrheitsprinzip ersetzt werden. Scholz stimmt dem zu, auch im Hinblick auf die Finanzpolitik. Zur Mitte des Jahrhunderts, wenn schätzungsweise zehn Milliarden Menschen die Erde bevölkerten, könne nicht ein einzelner Staat sich gegen die USA, China und andere große Nationen stellen, sagt er. Wer denke, das gehe allein und ohne die EU, "der irrt gewaltig".

Qua Amt vertritt Reiner Holznagel die Stimme des kleinen Mannes in der Runde. Der Präsident des Bundes der Steuerzahler plädiert dafür, nicht immer neue hohe Summen für Rettungspakete zu nennen, sondern das viele Geld, das schon da ist, richtig zu nutzen. "Jetzt sehen wir einen Streit zwischen diversen Staaten und am Ende fühlt sich der Steuerzahler ein bisschen veräppelt, denn er muss irgendwann sowieso alles bezahlen." Er wünsche sich nun auch eine Debatte über das Sparen, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Dabei nennt er beispielhaft die mehr als 700 Bundestagsabgeordneten, die die Bürger eine Milliardensumme kosteten. Scholz, der das Credo der schwarzen Null lebt und eigentlich als Inbegriff des enger geschnallten Gürtels gelten dürfte, lehnt diese konkreten Sparbeispiele als "Unernsthaftigkeit" ab. Einfach, weil sie nichts mit der gegenwärtigen Corona-Krise zu tun hätten.

"Armutszeugnis" für Deutschland

Also zurück zum Thema: Mögliche Wege aus der Rezession sehen für die Talkshow-Gäste unterschiedlich aus. Monika Schnitzer kritisiert Kaufprämien für Autos, die derzeit im Gespräch sind. Geld für Verbrenner sei nicht die viel beschworene Zukunft Europas. Vielmehr müsse die Digitalisierung ausgebaut werden. Die Infrastruktur fehle vielerorts, das hätten nicht zuletzt wacklige Verbindungen bei Videokonferenzen im Homeoffice gezeigt. Den Grünen schwebt derweil als Hilfe für den Einzelhandel ein "Kauf-vor-Ort-Gutschein" vor. Damit sollten gezielt Läden in der Innenstadt und nicht Onlinehändler wie Amazon unterstützt werden, die eh schon von der Krise profitierten, sagt Baerbock. Ein Vorschlag, der bei den anderen Talkgästen auf wenig Gegenliebe stößt.

Linnemann wünscht sich Unterstützung für Unternehmen, die gegenwärtig keinen oder wenigen Umsatz machten: die Gastro- und Reisebranche, Messebauer, Veranstalter, usw. "Die sind fertig", sagt der Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion. Sie bräuchten unbedingt staatliche Unterstützung in Form eines Zuschusses zu den laufenden Betriebskosten sowie Liquiditätshilfen. Dem stimmt auch Expertin Schnitzer zu. Aber: "Wir wollen nicht einfach so Unternehmen über die Krise retten, die es ohnehin nicht geschafft hätten und die denken, auf diese Weise kommen sie jetzt nochmal weiter durch."

Ganz und gar verschlafen hat Deutschland ihrer Ansicht nach die Investitionen in E-Learning. Den Bildungsausgaben insgesamt stellt Schnitzer ein schlechtes Zeugnis aus. Dabei refinanzierten sich Ausgaben für die Bildung am Ende selbst. Bessere Bildung bedeute, dass Menschen später bessere Berufe ausübten und mehr Steuern zahlten. Die gegenwärtige Situation bezeichnet sie als "Armutszeugnis für ein Land, das von seinem Humankapital leben will."

Und so ist es gegen Ende der Sendung die Diskussion über den symbolischen Familienbonus, die Schnitzers Punkt eindrucksvoll unterstreicht. Einmalig 300 Euro sollen demnach pro Kind ausgezahlt werden. Der Vorschlag aus der SPD kommt bei Oppositionspolitikerin Baerbock nicht gut an. Sie benötige kein Geld, sondern offene Kitas und Schulen. Außerdem verdiene sie überdurchschnittlich gut. Soll sie trotzdem für ihre beiden Kinder 600 Euro bekommen? Genauso viel wie Eltern, die von Hartz IV leben? Ein Betrag, der nicht einmal für die Finanzierung von Tablets oder anderen Schulmaterialien des digitalen Unterrichts reicht? Den Bund würde diese Bonuszahlung übrigens fünf bis sechs Milliarden Euro kosten. Viel Geld, für das es in dieser Krise unzählige andere Einsatzmöglichkeiten gäbe.