„Alle EU-Instrumente müssen den Bedürfnissen Italiens gerecht werden“
Portugals Finanzminister und Eurogruppenchef Mário Centeno lobt den Vorschlag von Merkel und Macron, um schwächeren Ländern zu helfen. Er warnt aber vor zu strengen Bedingungen – und moniert, dass gemeinsame europäische Initiativen einige Wochen zu spät kamen.
Lange Sitzungen ist Mário Centeno gewohnt, nicht erst seit er vor zweieinhalb Jahren den Vorsitz der Eurogruppe übernommen hat, jener Runde der Euro-Finanzminister, in der die Geschicke der Währungsunion bestimmt werden. Seit Wochen diskutiert die Runde auf ihren Treffen über Finanzhilfen in der Corona-Krise.
Auf der nächsten Sitzung wird der Konjunkturfonds Thema sein, den Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgeschlagen haben und für den die EU 500 Milliarden Euro neue Schulden aufnehmen soll. Am Mittwoch stellt die Europäische Kommission zudem ihre Pläne für ein Konjunkturprogramm vor – beide Vorschläge sollen sich ergänzen.
Heute ist Mário Centeno spät dran, er hatte eine Kabinettssitzung, die mehrere Stunden gedauert hat. Mit anderthalb Stunden Verspätung setzt sich der portugiesische Finanzminister vor die Videokamera. Wenige Minuten zuvor erst ist er im Ministerium angekommen. „Entschuldigen Sie“, sagt er, kontrolliert sein Bild auf dem Monitor, streicht sich die Haare zurecht, zupft am Hemdkragen, drückt den Rücken durch, und dann ist er bereit für das Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
WELT AM SONNTAG: In der Corona-Krise kamen aus Südeuropa und vor allem Italien Vorwürfe, dass die Deutschen nicht genügend Solidarität mit wirtschaftlich schwächeren EU-Ländern zeigen. Hat der Vorschlag von Merkel und Macron die Südeuropäer wieder mit Deutschland versöhnt?
Mário Centeno: Der Vorschlag von Merkel und Macron war eine gute Nachricht für Europa. Politiker in ganz Europa haben ihn begrüßt, Südeuropa eingeschlossen, und die Märkte haben ebenfalls positiv reagiert. Jeder Vorschlag, den Deutschland und Frankreich gemeinsam machen, entfaltet in Europa eine gewaltige Kraft hin zu Konvergenz und Einheit. Diese Initiative ist ein kühner Schritt in die richtige Richtung, um diese Krise zu überwinden.
WELT AM SONNTAG: Die Staatsschulden werden in diesem Jahr explodieren. Ökonomen warnen bereits vor der Überschuldung und einer neuen Euro-Krise.
Centeno: Wer das sagt, will sich vor allem wichtig machen. Dieser Anstieg der Verschuldung ist zeitlich begrenzt. Wir erleben kein jahrelanges Anhäufen von Schulden, sondern eine schnelle, unabdingbare Reaktion in Krisenzeiten. Wenn wir es schaffen, Arbeitnehmer und Unternehmen jetzt zu schützen, werden die Schuldenstände wieder sinken, sobald die Beschränkungen in der Corona-Krise aufgehoben werden und unsere Volkswirtschaften wieder anfangen zu wachsen. Die Schuldenstände werden vermutlich schon ab dem kommenden Jahr wieder sinken, davon gehen die meisten Vorhersagen aus. Außerdem ist 2020 nicht 2008. Wir haben heute in Europa stärkere EU-Institutionen, gesündere Banken, robuste öffentliche Finanzen und ausgeglichene Handelsbilanzen.
WELT AM SONNTAG: Sie sind sehr optimistisch. Das setzt allerdings voraus, dass das Wachstum schnell zurückkehrt.
Centeno: Die aktuellen Konjunkturprognosen berücksichtigen noch nicht den 500 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds und Milliarden von Euro aus dem EU-Haushalt, die früher als geplant ausgegeben werden sollen. Dieses gewaltige Konjunkturprogramm wird die wirtschaftliche Erholung stark beschleunigen. Schon in der jetzigen EU-Konjunkturprognose erreicht Deutschland bereits Ende nächsten Jahres wieder die Wirtschaftsleistung von Ende 2019. Nicht alle EU-Länder werden die Krise so erfolgreich bekämpfen wie Deutschland, weil sie nicht über die entsprechenden finanziellen Mittel verfügen. Aber trotzdem werden die meisten, wenn nicht sogar alle EU-Länder bis Ende 2022 wieder die Wirtschaftsleistung von Ende 2019 erreichen. Das ist kein Grund zum Jubeln, weil wir wirtschaftlich zwei Jahre verlieren, aber es zeigt eines: Diese Krise ist nicht der Weltuntergang. Wir werden uns von dieser Krise relativ schnell erholen.
WELT AM SONNTAG: In Italien und anderen Ländern ist die Stimmung aber am Tiefpunkt. Auch was Europa angeht. Dort wird statt von einem gemeinsamen Vorgehen über einen Mangel an Solidarität geklagt.
Centeno: Wir müssen verstehen, woher diese Sorgen kommen. Italien war im Auge des Sturms, und viele Wochen lang hat keiner von uns Licht am Ende des Tunnels gesehen. Kein Land hätte in dieser Krise allein überleben können. Solidarität war nötig, und schließlich kam sie auch. Sie müssen sich auch klarmachen: Nicht jedes Land hat die finanzielle Kraft von Deutschland, um solch eine Krise zu bekämpfen. In dieser Hinsicht kamen unsere gemeinsamen europäischen Initiativen vielleicht einige Wochen zu spät. Wochen wohlgemerkt, nicht Monate und sicherlich nicht Jahre wie in der Schuldenkrise. Wir haben schnell reagiert, damit es keine zweite Welle der Schuldenkrise geben wird, wie in der Euro-Krise. Wir sind jetzt seit zwei Monaten in der Krise und haben schon viele Instrumente entwickelt, ihre wirtschaftlichen Folgen abzumildern. Das wird in Italien genau wie anderswo sehr genau wahrgenommen.
WELT AM SONNTAG: Die Populisten in Italien versuchen trotzdem, aus der Krise eine Anti-EU-Kampagne zu machen.
Centeno: Das ist leider nichts Neues. Wir haben in den vergangenen drei Jahren immer wieder die Rolle Italiens in Europa diskutiert. Italien muss sich als Teil Europas fühlen, das ist ganz wichtig. Italien ist einer der Gründerväter der EU und hat die drittgrößte Bevölkerung und Volkswirtschaft der EU. Deshalb müssen alle EU-Instrumente, mit denen wir auf die Krise reagieren, den Bedürfnissen Italiens gerecht werden.
WELT AM SONNTAG: Italien rechnet mit 100 Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds. Ist das realistisch?
Centeno: Bevor wir über die Verteilung des Geldes reden, müssen wir wissen, wie viel jedes Land braucht. Das Geld aus dem Wiederaufbaufonds muss in die Länder fließen, die von der Krise am stärksten betroffen sind. Wir wissen nicht, ob 100 Milliarden zu viel sind oder zu wenig. Die Antwort auf die Krise muss der Herausforderung entsprechen, und Italien ist ein sehr großes Land. Wir sollten sicherstellen, dass die Kosten so auf die Nationalstaaten und die EU aufgeteilt werden, dass jedes Land angemessen auf die Krise reagieren kann und dass die Krisenantwort europaweit ausgeglichen ist.
WELT AM SONNTAG: Merkel und Macron fordern, dass die Zuschüsse nur unter Bedingungen vergeben werden. Bisher reagiert die italienische Politik aber sehr empfindlich auf jede Form von Bedingungen. Wird Rom den 500-Milliarden-Fonds unter diesen Umständen akzeptieren?
Centeno: Der Wiederaufbaufonds soll Teil des EU-Haushalts werden, und es ist völlig normal, dass Geld aus dem EU-Haushalt an Bedingungen geknüpft wird. Das ist nichts Neues. Das Geld muss so verwendet werden, dass es europäische Prioritäten unterstützt, etwa die Digitalisierung oder den Kampf gegen den Klimawandel.
WELT AM SONNTAG: Merkel und Macron fordern aber explizit eine solide Wirtschaftspolitik. Das klingt eher nach Fiskaldisziplin und Strukturreformen.
Centeno: Reformen sind Teil der Antwort auf diese Krise. Wir erleben eine Pandemie, und eine Gesundheitskrise darf nicht dazu führen, dass Sozialsysteme abgebaut werden und der Kern des europäischen Sozialmodells zerstört wird. Wir brauchen Investitionen in Digitalisierung und Klimaschutz. Das bedeutet, dass es Reformen geben wird, das halte ich für völlig unproblematisch. Aber ich will ganz deutlich sagen: Damit meine ich nicht Strukturreformen wie in der Staatsschuldenkrise. Strukturreformen wären heute völlig fehl am Platz.
WELT AM SONNTAG: Diese Frage dürfte trotzdem auf europäischer Ebene diskutiert werden, genauso wie die Kriterien für die Verteilung und ob das Geld als Transfers fließen soll, wie von Merkel und Macron versprochen, oder als Kredite, wie es Österreich, Finnland, die Niederland und Dänemark fordern. Lassen sich diese erheblichen Differenzen überhaupt überbrücken?
Centeno: Unterschiedliche Länder haben unterschiedliche Befindlichkeiten. Aber ich interpretiere den deutsch-französischen Vorschlag anders. Er ist bereits ein Versuch, Brücken zu bauen, und es ist bemerkenswert, dass es in Deutschland und Frankreich breite politische Unterstützung für die Vorschläge gibt. Ich denke, dass die Staats- und Regierungschefs und Ratspräsident Charles Michel genügend Verhandlungsmasse haben, um einen guten Kompromiss zu finden. Wir dürfen diese einmalige Chance nicht verschwenden. Wir sind 27 reife Demokratien und haben es immer geschafft, einen Kompromiss zu finden. Finanzminister sind daran gewöhnt, und wir werden den Vorschlag in der Eurogruppe diskutieren, zusammen mit dem Vorschlag, den die Kommission nächste Woche vorlegen wird.
WELT AM SONNTAG: Bis wann erwarten Sie eine Einigung?
Centeno: Es wäre gut, wenn wir uns vor dem Sommer auf die Grundzüge des Wiederaufbaufonds einigen. Das würde Gewissheit bedeuten für Bürger, Unternehmen und die Märkte und die EU-Reaktion glaubwürdiger machen. Die Verhandlungen im Europäischen Rat werden sehr kompliziert werden. Die Eurogruppe hat sich bereits auf einige Kernelemente des Wiederaufbaufonds geeinigt, und wir stehen bereit zu helfen, so wie in der Notfallphase der Krise.
WELT AM SONNTAG: Es gibt allerdings die Angst, dass dieses zeitlich befristete Instrument nicht zeitlich befristet bleibt.
Centeno: Der Wiederaufbaufonds ist zeitlich befristet, und es ist im Interesse aller, dass er zeitlich befristet ist. Er ist den momentanen Bedürfnissen angepasst. Menschen schwanken zwischen Begeisterung und Skepsis, wenn Neuerungen eingeführt werden. Wir werden sehen, wie es funktioniert. Letztlich werden wir entscheiden müssen. Dieses Schritt für Schritt ist Teil der DNA der europäischen Integration. Der deutsch-französische Vorschlag wäre ein großer Schritt hin zu einer Fiskalunion und zu einer wirklich funktionierenden Währungsunion, selbst wenn der Wiederaufbaufonds nur zeitlich begrenzt ist. Und alle Europäer profitieren von solch einer engeren Integration und werden weiter darüber entscheiden.
WELT AM SONNTAG: Wird das Thema überhaupt in der Eurogruppe diskutiert werden? Schließlich wird der EU-Haushalt normalerweise in einer anderen Runde verhandelt.
Centeno: Der Wiederaufbau wird in der Eurogruppe diskutiert werden. Die Eurogruppe ist am ehesten geeignet, darüber zu beraten, wie nationale Strategien für die wirtschaftliche Erholung und Strategien auf der EU-Ebene einander ergänzen, besonders weil sie makroökonomisch relevant sind. Wir sind eine flexible Gruppe und haben immer wieder bewiesen, dass wir Ergebnisse liefern. Noch wissen wir nicht, wie der Vorschlag der Kommission für beide Themen aussehen wird. Aber es wird sehr wichtig werden, in den kommenden Wochen zu koordinieren, und koordinieren ist das, was wir tun.
WELT AM SONNTAG: Und werden Sie derjenige sein, der koordiniert? Im Juli endet Ihre Amtszeit, und es heißt in Brüssel, dass Sie keine zweite anstreben.
Centeno: Meine Amtszeit endet am 13. Juli, und ich werde meine Kollegen in den kommenden Wochen informieren, ob ich für eine zweite Amtszeit kandidiere. Es war eine sehr spannende Tätigkeit, und ich denke sorgfältig über meine Entscheidung nach. Die letzten zweieinhalb Jahre waren eine intensive Zeit, wir hatten insgesamt 30 Eurogruppen-Treffen, viele davon bis sehr lang in die Nacht. Es war eine Zeit zwischen zwei Krisen, aber wir haben diese Zeit sehr produktiv genutzt. Wir haben sehr viele Reformen abgeschlossen, die die Euro-Zone gestärkt haben.
Dieser Text ist aus der WELT AM SONNTAG. Wir liefern Sie Ihnen gerne regelmäßig nach Hause.
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