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Auch China und die EU griffen immer häufiger zu Handelssanktionen als Mittel der Politik

Quelle: Getty Images

Welthandel außer Kontrolle – und Trump ist der „traurige Vorreiter“

Als Vergeltung für die Hilfszahlungen an den Flugzeugbauer Airbus errichten die USA immer wieder neue Handelsbarrieren. Betroffen sind auch Unternehmen, die mit Luftfahrt gar nichts zu tun haben. Doch hinter der scheinbaren Willkür steckt ein System.

Die US-amerikanischen Handelssanktionen gegen Europa treffen oft die Falschen – und manchmal sogar Amerikaner. So hat die deutsche Hettich Gruppe kürzlich die geplante Erweiterung eines Werks in der Nähe von Atlanta gestoppt, das rund 100 neue Jobs in die Region gebracht hätte. „Wegen der US-Strafzölle auf Stahl ist der US-Standort für uns derzeit weltweit der teuerste“, begründete der Beiratsvorsitzende Andreas Hettich den Schritt im Gespräch mit WELT.

Das Unternehmen zählt mit einem Umsatz von mehr als einer Milliarde Euro zu den weltweit größten Herstellern von Möbelbeschlägen. Statt im US-Bundesstaat Georgia werden die Schubkastenführungen nun in Deutschland produziert. Denn die fertigen Teile können weiter zollfrei exportiert werden. „Präsident Trump will mehr Produktion in die USA holen. Er erreicht bei uns damit genau das Gegenteil“, sagt Hettich.

Im Streit um Flugzeugsubventionen hatte die Welthandelsorganisation WTO den USA im vergangenen Oktober die Genehmigung erteilt, Strafzölle auf Produkte aus der EU im Wert von sieben Milliarden Euro zu verhängen. Seither herrschen Unsicherheit und Anpassungsdruck in vielen Unternehmen, selbst wenn diese keinerlei Berührungspunkte zum Flugzeugbau haben. Sie zu bestrafen, ist nach den WTO-Regeln zulässig.

Käse, Branntwein, Gemüsesaft auf der Liste

„Wir fühlen uns ausgeliefert und etwas hilflos, zumal wir mit der Ursache für diesen Handelskonflikt nichts zu tun haben“, sagt Hettich: „Leid tut mir die Entwicklung für unser Management in den USA, das sehr für die Erweiterung gekämpft hatte.“

Auf Deutschland bezogen ist ein Exportvolumen von fast 1,9 Milliarden Euro von den neuen Strafzöllen betroffen, wie eine Studie der Stiftung Familienunternehmen zeigt. Davon entfällt mit 1,2 Milliarden zwar ein großer Anteil auf den Bau von Flugzeugen, doch die große restliche Last müssen sich Warengruppen teilen, die willkürlich gewählt wirken: Hersteller von hydraulischem Werkzeug, Branntwein, Likören, Käse, Kunstdruck, Wein oder Gemüsesaft zum Beispiel. Irgendwie sind selbst Hostien, Feilen, Sensen auf die Strafliste gelangt.

Der Schaden summiert sich. „Insgesamt dürften die Güterexporte Deutschlands infolge der Zusatzzölle um 648 Millionen Euro zurückgehen“, schreiben die Autoren der Studie, Gabriel Felbermayr (IfW Kiel) und Christoph Herrmann von der Universität Passau. Betroffen seien häufig mittelständische Firmen und Familienunternehmen. Deshalb sei ein europäischer Ausgleichsfonds zur Kompensation der Ausfälle sinnvoll.

Auch einige Politiker wie der rheinland-pfälzische Wirtschaftsminister Volker Wissing (FDP) und die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, Katharina Barley (SPD), hatten zuvor Ausgleichszahlungen ins Gespräch gebracht, in diesem Fall für Winzer. Schließlich seien die Weinbauern schuldlos in die missliche Situation geraten.

Hinter dem scheinbaren Wirrwarr der sanktionierten Branchen steckt Methode, wie die Studie zeigt. Das Ziel: Verunsicherung schaffen, den politischen Druck erhöhen. Die USA können jederzeit Produkte von der Strafliste streichen und andere hinzunehmen. Auch die Höhe der Zölle kann geändert werden. Erst Mitte Februar hob Washington den Tarif bei Luftfahrzeugen von zehn auf 15 Prozent an, bei den anderen Produkten liegt er momentan bei 25 Prozent. Es sei wissenschaftlich gut belegt, dass Unsicherheit über das Zollregime den Handel oft stärker beeinträchtige als die Zölle selbst, schreiben Felbermayr und Herrmann.

WTO urteilt auch über Boeing

Dennoch schöpfen die USA mit ihren Strafzöllen den Rahmen des von der WTO Erlaubten bei Weitem nicht aus. Danach wären Zollsätze bis zu 100 Prozent möglich. „Insgesamt haben sich die Vereinigten Staaten nicht nur an die Vorgaben gehalten, sie bleiben sogar hinter ihren Möglichkeiten zurück“, stellen die Studienautoren fest. Ein möglicher Grund dafür: Die Amerikaner müssen damit rechnen, dass die EU es ihnen demnächst mit gleicher Münze heimzahlt. Denn im Gegenzug zur amerikanischen Klage vor der WTO wegen der Airbus-Subventionen hatte die EU in dem seit mehr als 15 Jahren andauernden Handelsstreit auch eine Klage gegen die USA wegen unerlaubter Hilfen für Boeing angestrengt.

Beobachter gehen davon aus, dass über diese Klage demnächst entschieden wird und sie dann mit einem ähnlichen Resultat bei umgekehrten Vorzeichen endet. „Die Einführung gleichwertiger oder höherer Zölle auf Flugzeugimporte nach Europa ist wahrscheinlich“, heiß es etwa in einem Airbus-Zwischenbericht. Auch die EU bereitet sich darauf vor, alle möglichen Produkte jenseits des Flugzeugbaus mit Strafzöllen zu belegen. Eine vorläufige Liste umfasst auf elf eng bedruckten Seiten Ware von gefrorenem Seefisch über Wasserpfeifentabak bis hin zu Fahrradpedalen.

Ob sie je zur Anwendung kommt oder beide Seiten rechtzeitig beidrehen, ist unklar. Vergeltungszölle der EU bildeten eine effiziente Drohkulisse für die USA, „denn Boeing verkauft in Europa deutlich mehr Flugzeuge als Airbus in den Vereinigten Staaten“, so die Studie. Dieser amerikanische Handelsüberschuss stehe auf dem Spiel. Ein Indiz für ein Einlenken könnte ein Beschluss des US-Bundesstaats Washington aus dem Februar sein, Steuervorteile für Boeing abzuschaffen.

Auch für den Fall einer Einigung in diesem Streit bleiben Felbermayr und Herrmann bei ihrer Empfehlung, eine Kompensation für Unternehmen zu zahlen, die unter Handelskonflikten leiden. Denn das handelspolitische Klima habe sich generell verschlechtert. „Der Welthandel ist aus den Fugen geraten“, schreiben sie. Die USA unter Präsident Trump seien in dieser Hinsicht „traurige Vorreiter“ geworden, aber auch China und die EU griffen immer häufiger zu Handelssanktionen als Mittel der Politik.

Beispiele seien die Restriktionen gegenüber dem Iran oder Russland, aber auch der Entzug europäischer Handelsvorteile gegenüber Kambodscha. In der Corona-Krise habe Deutschland mit der Exportsperre für Masken und medizinisches Gerät Mitte März sogar die innereuropäischen Binnenmarktregeln missachtet. Insgesamt sei in Zukunft häufiger mit handelspolitischen Streitigkeiten zu rechnen.

Exportorientierte deutsche Unternehmen bleiben wachsam, um schnell handeln zu können, falls sich das Klima wieder aufhellt. Auch Hettich geht in die Beobachtungsposition: „Jetzt drücken wir die Pause-Taste und hoffen, dass es bald wieder eine verlässliche amerikanische Regierung gibt.“