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"Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur." Jürgen Wertheimer beschreibt Europa als ein Produkt strategischer Abgrenzungen. Im Bild: Peter Paul Rubens, "Der Raub der Europa", 1628/29 (picture alliance/akg-images)

Jürgen Wertheimer über Europa"Hört bitte auf, von Freiheit und Toleranz zu reden"

Europa ist nicht nur ein Projekt der Aufklärung, sondern auch der Ausgrenzung, schreibt Jürgen Wertheimer. In "Europa - Eine Geschichte seiner Kulturen" unternimmt der Literaturwissenschaftler einen wilden Ritt durch die literarische Identitätsgeschichte des Kontinents - und schaut tief in seine kulturellen Abgründe.

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"Von allen möglichen ‚Identitäten‘ ist die ‚europäische‘ die am wenigsten klar zu umreißende. Die Wahrheit ist, dass sich im Verlauf der langen Geschichte dieses Kontinents seine Bewohner kaum je als ‚Europäer‘ begriffen haben. Die nationale, dynastische, ethnische oder religiöse Identität stand und steht meist sehr viel mehr im Vordergrund."

In dem Zwischenkapitel "Wir sind wir – oder sind wir die anderen?" zieht Jürgen Wertheimer ein ebenso ernüchterndes wie erhellendes Fazit seines Rittes durch 3.000 Jahre europäischer Kultur- und Literaturgeschichte. Ein Ritt, der es in sich hat! Für Wertheimer ist es ein Spezifikum der europäischen Literatur, dass sie keine bloße Fiktion ist, sondern sich immer mit der gesellschaftlichen Realität ihrer Zeit auseinandergesetzt hat und diese nicht selten überhaupt erst schuf. Das beginnt mit der Entführung der phönizischen Königstochter Europa. Homer und Herodot erzählen, dass sie vom Göttervater Zeus aus dem heutigen Libanon nach Kreta entführt wird.

"Ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence"

"Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur – der gesamte Mittelmeerraum wird sozusagen neu vermessen und geht auf Kurs ‚West‘. Ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence."

Europa ist ein Produkt strategischer Abgrenzungen, diese Erkenntnis findet sich bei Wertheimer ein ums andere Mal. Ein kluger Gedanke, denn er macht Veränderung zum Programm, statt auf einer fixen Identität zu beharren. So ist für ihn die griechische Tragödie ein Versuch, sich aus den Zwängen eines archaischen Schicksalsglaubens zu befreien. Durch seine Neugier wird Odysseus zum ersten Individualisten der europäischen Kultur.

Eine weitere Wurzel Europas findet Wertheimer in der Jüdischen Geschichte. Der Auszug aus Ägypten befreite die Israeliten zwar von der Sklaverei, doch die Jahre in der Wüste hatten ihren Glauben ins Wanken gebracht, und in Palästina erwartete sie keineswegs das Gelobte Land, sondern Entbehrung. Umso wichtiger war für das Überleben der Gruppe die Selbstoffenbarung Gottes am Berg Sinai.

"Man entdeckte die strategischen Möglichkeiten, die sich aus der Idee des Bundes mit einem entfernten und zugleich hautnahen Gott ergaben. Eine weitere Idee vervollständigt das Szenario: die des Kollektivs. Des Kollektivs als gedachter, gefühlter Einheit. Als eines Etwas, das aus Einzelwesen Elemente eines höheren Ganzen werden lässt. Nicht einfach als mächtig, reich oder glücklich definiert sich das in diesem Sinn ‚erfundene Volk‘, sondern als ein unter Tausenden anderen vom ‚erfundenen Gott‘ auserwähltes."

Christus als "Kunstwerk" prägt den Kontinent

Wertheimer lässt an diesem Punkt keinen Zweifel: Religiöse Überzeugungen mögen für die jeweiligen Gläubigen den Kern ihrer Identität ausmachen. Für ihn sind sie Ausdruck wirkmächtiger kultureller Texte – aber nicht mehr!

"Es gibt Texte – heilige Texte gibt es natürlicherweise nicht; sie wurden und werden von Menschen gemacht, genau wie Heilige von Menschen gemacht wurden […] ein menschliches Kunstwerk."

Vor allem das "Kunstwerk Christus" wird die Geschichte Europas nachhaltig prägen. Zunächst werden dessen Anhänger zu Tausenden hingerichtet, dann wird das Christentum Staatsreligion im Römischen Reich und den Reichen, die sich in seiner Nachfolge sehen.

"Europa, das ist ein fragiles Konstrukt aus drei, vier, fünf Erben Roms, die im Streit miteinander lagen und einander stets kritisch beäugten. Trotz all dieser Rivalitäten bildet sich ein gemeinsamer Wille heraus, eine Leitidee. Ihr Resultat war der erste größere Dschihad der europäischen Geschichte. Von einem Projekt Europa zu sprechen, heißt mithin auch von seinen dunklen und von Beginn an auf Dominanz setzenden Seiten zu sprechen."

Kreuzzüge als "europäische Identitätsfindung" 

Die Kreuzzüge sind nur ein Ausdruck der Gewalttätigkeit, die die europäische Identitätsfindung durch Abgrenzung begleitete. Die Vertreibung der Juden und Muslime aus Spanien ist ein weiterer – und mit ihr, Hand in Hand, die nicht minder gewaltvolle "Entdeckung" der Neuen Welt.

Es ist hier nicht möglich, dieses an klugen Gedanken, vielfältigen Facetten und Widersprüchen so reiche Buch auch nur in Ansätzen wiederzugeben. Wichtiger ist, auf die Gleichzeitigkeit von Licht und Schatten hinzuweisen. Sprache und Kultur sind das Medium der Befreiung aus den Fesseln der Tradition, doch die Gedanken von Renaissance, Aufklärung und Humanismus befreien nicht nur, sondern grenzen immer auch aus.

"Inbesitznahme, Sprachregelung, Normsetzung: Der überlegene humanistische Protagonist setzt die Norm – mit sanften oder groben Worten, doch immer ‚alternativlos‘."

Gefangen in der Rassismusfalle?

Spätestens hier bekommt das Buch eine enorme Aktualität – gerade in einer Zeit, in der sich kompromisslose Verfechter des Humanismus mit ihren Normsetzungen auf der einen und unbeirrbare Verfechter einer "Alternative für Deutschland" – oder für Europa – auf der anderen Seite zunehmend sprachlos gegenüberstehen. Wertheimer ist wahrlich kein Freund der AfD, aber er schlägt sich auch nicht einfach auf die Seite der Anti-Rassisten.

"Wir Europäer scheinen nach wie vor in der Rassismusfalle festzustecken. Jedenfalls lassen sich rassistische Argumente – offen oder verborgen – jederzeit wieder in Stellung bringen. Und die Frage, ob wir möglicherweise tatsächlich genetisch auf Rassismus und Vermischungsangst hin angelegt sein könnten, wagt kaum einer auch nur zu stellen. Wer dies dennoch tut, gerät unter den Koordinaten der ‚Political correctness‘ schnell in ein ideologisches Minenfeld. Dennoch, gerade deshalb muss die Diskussion geführt werden, auch wenn sie neue, unerwünschte Probleme sichtbar machen könnte."

Suada gegen verlogene Bequemlichkeit

Vielleicht würde dabei ja auch sichtbar, dass das Milieu der Akademiker, Intellektuellen und Journalisten, das sich oft die europäischen Werte auf die Fahnen schreibt, gar nicht so moralisch überlegen ist, wie es gern tut. "Hört bitte auf, von Freiheit und Toleranz zu reden", fordert Wertheimer – und spricht dabei natürlich auch über sich selbst.

"Uns sind ganz andere, sehr viel weniger empathische Werte wichtig: Werte wie Gewinnmaximierung […] Profilierung und wachsender Konsum. Effizienz und Exzellenz, Sicherheit und geordnete Verhältnisse stehen im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Verbunden mit der Hoffnung auf ein nicht allzu anstrengendes Leben, in dem man sich gut fühlt."

Und genau an diesem Punkt gerät das grandiose Buch an eine Grenze. Ein uneingeschränkt gutes Lebensgefühl ist heute nur noch möglich, wenn man darüber schweigt, wie schädlich die Voraussetzungen des eigenen Wohlstands – und damit des Wohlfühlens – sind. Und das tut Wertheimer: Er klammert die ökologische Frage aus, obwohl Bücher über den Klimawandel doch längst zur europäischen Kultur gehören.

Jürgen Wertheimer: "Europa. Eine Geschichte seiner Kulturen"
Penguin Verlag, 576 Seiten, 26 Euro