Umstrittenes Medikament: Wie gefährlich ist Cytotec bei Geburten? - DER SPIEGEL - Gesundheit

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Eine Cytotec-Tablette kostet weniger als ein Euro, laut Packungsbeilage soll sie die Magenschleimhaut schützen und die Produktion von Säure reduzieren. In der Geburtsmedizin aber erhalten Schwangere das Mittel häufig, wenn ihr Körper nicht von allein mit der Geburt beginnt. Dafür ist die Tablette eigentlich nicht zugelassen.

Die "Süddeutsche Zeitung" und der Bayerische Rundfunk haben in mehreren Berichten den Einsatz des Medikaments in der Geburtshilfe stark kritisiert. Der Tenor: Cytotec gefährdet im Extremfall das Leben von Mutter und Kind. Gynäkologinnen und Gynäkologen halten dagegen. Ihre Botschaft: Die Berichte schürten Angst vor einem eigentlich gut erprobten Hilfsmittel für Ausnahmefälle.

Worum geht es bei dem Streit? Warum dürfen Ärzte Schwangeren die Tabletten geben, obwohl das Mittel für diesen Zweck gar nicht zugelassen ist? Und was für Alternativen gibt es? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Was ist Cytotec für ein Medikament?

Cytotec ist ein Medikament mit dem Wirkstoff Misoprostol und wurde als Magenschutzmittel zugelassen. Misoprostol ist ein künstlich hergestelltes Prostaglandin. Diese Hormone kommen auch natürlicherweise im menschlichen Körper vor und spielen unter anderem bei der Geburt eine Rolle, indem sie Wehen auslösen. Daher wird Cytotec auch zur künstlichen Geburtseinleitung verwendet, obwohl es dafür nicht zugelassen ist. 2006 nahm der Pharmahersteller Pfizer Cytotec in Deutschland vom Markt. Der "Missbrauch" sei zu hoch gewesen, teilte das Unternehmen damals dem Gemeinsamen Bundesausschuss mit. Das Medikament kann seither aus dem Ausland importiert werden.

Warum darf Cytotec in der Geburtshilfe verwendet werden?

In Deutschland ist Cytotec nicht zur Geburtseinleitung zugelassen. Es kann dafür jedoch im sogenannten Off-Label-Use verwendet werden. Dies bedeutet, dass Mediziner ein Medikament in einem Anwendungsbereich einsetzen dürfen, für den es gar nicht zugelassen ist. Patientinnen müssen darüber jedoch aufgeklärt werden. Kommt es zu Schädigungen durch Nebenwirkungen, haften die Ärzte dafür selbst. Das Off-Label-Verfahren kommt häufig auch in der Kinderheilkunde zum Einsatz. Denn gerade bei Schwangeren und Kindern sind Medikamententests - die für eine Zulassung nötig wären - aus ethischen Gründen hochproblematisch.

Wie häufig wird Cytotec zur Einleitung von Geburten verwendet?

Dazu gibt es keine genauen Zahlen. Die "Süddeutsche Zeitung" und der Bayerische Rundfunk berufen sich auf eine Umfrage der Universität Lübeck, wonach etwa jede zweite deutsche Klinik Cytotec zur Einleitung verwendet. In einem Interview mit der "Ärzte Zeitung" sagt der Chefarzt der Klinik für Gynäkologie am Berliner St. Joseph Krankenhaus, Michael Abou-Dakn, dass 23 Prozent der Geburten eingeleitet würden, schätzungsweise "in mindestens 50 Prozent der Fälle" mit Cytotec. Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) gibt in einem Statement zur Cytotec-Diskussion bekannt, dass "fast alle Perinatalzentren höchster Ordnung diesen Wirkstoff verwenden", wobei es sich jedoch um ein "Misoprostol-Präparat geringerer Dosierung" handele.

Worum geht es in dem Streit um Cytotec?

Die jüngsten Berichte über Cytotec haben eine Kontroverse ausgelöst: "Süddeutsche" und BR hatten Gerichtsurteile und Gutachten ausgewertet und waren zu dem Ergebnis gekommen, dass Cytotec im Extremfall zu schweren Komplikationen führen kann. So sei es bei Frauen nach der Einnahme von Cytotec zu Gebärmutterrissen gekommen oder zu einem Wehensturm. Dabei folgen die Wehen nahezu ohne Pausen aufeinander. Im schlimmsten Fall kann dies beim Ungeborenen einen Sauerstoffmangel auslösen. Babys seien deshalb mit Hirnschäden zur Welt gekommen.

Peter Husslein, Professor für Geburtshilfe und Leiter der Universitäts-Frauenklinik in Wien, kritisiert in der Zeitung den Einsatz des Medikaments in der Geburtshilfe scharf: Cytotec sei "weitgehend unkontrollierbar", es gebe "zu wenig Untersuchungen", und "es hat viele mütterliche Todesfälle verursacht".

Laut der Medienberichte hätten die US-amerikanische und die französische Gesundheitsbehörde schon lange vor den Risiken gewarnt und auf eine schlechte Studienlage verwiesen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) sei über viele der recherchierten Fälle gar nicht informiert. Es ist jedoch schwierig, diese Vorwürfe zu überprüfen, da es keine verlässlichen Zahlen über die Häufigkeit von schwerwiegenden Nebenwirkungen gibt.

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG) schreibt in ihrer Stellungnahme, dass "entgegen der Berichterstattung der Wirkstoff Misoprostol zur Geburtseinleitung bei geburtshilflichen Experten nicht umstritten" sei. Misoprostol sei "das effektivste Medikament zur Geburtseinleitung" und führe "zu weniger Kaiserschnitten als mit anderen Medikamenten".

Auch die Studienlage bewertet die DGGG anders, kein Wirkstoff zur Geburtseinleitung sei ähnlich gut in Studien untersucht worden. Zu Todesfällen sei es vor allem dann gekommen, wenn Cytotec bei Frauen angewendet wurde, die schon einmal an der Gebärmutter operiert worden waren, wie etwa bei einem Kaiserschnitt.

Auch die Münchner Krankenhäuser haben ein Statement veröffentlicht, in dem sie sich besorgt über die Verunsicherung der Schwangeren zeigen. Der Wirkstoff Misoprostol komme in Münchner Kliniken nur zum Einsatz, "wenn sichergestellt ist, dass keine relevanten Operationen an der Gebärmutter" vorausgegangen sind. Die wissenschaftliche Studienlage würde eine solche Anwendung rechtfertigen, denn bei einem Überschreiten des Geburtstermins erhöhten sich die Risiken für Mutter und Kind.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt in ihren Richtlinien Misoprostol zur Geburtseinleitung. Allerdings in einer niedrigeren Dosierung als offenbar häufig eingesetzt. In diesem Zusammenhang sagte Wolfgang Lütje, Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Hamburger Amalie-Sieveking-Krankenhaus dem "Deutschen Ärzteblatt", dass Misoprostol sicher sei, "wenn es richtig angewendet wird. Die Problematik ist nicht eine der Substanz, sondern eine der Anwendung." Auch in einer Cochrane-Studie aus dem Jahr 2014 hieß es, dass noch immer nicht genügend Daten aus "randomisierten kontrollierten Studien" vorlägen, "um die optimale Dosis bei größtmöglicher Sicherheit zu bestimmen."

Was für Alternativen gibt es?

Es gibt noch andere Präparate, die Wehen auslösen können. So etwa ein weiteres - teureres - Prostaglandin mit dem Namen Dinoproston, das vaginal verabreicht werden kann. Die Nebenwirkungen sind ähnlich wie bei Misoprostol. Zudem besteht ein erhöhtes Infektionsrisiko, vor allem, wenn die Fruchtblase schon geplatzt ist. Kritiker sagen laut "Süddeutsche Zeitung" jedoch, dass es unter Misoprostol häufiger zu einem Wehensturm kommen kann. Auch das Hormon Oxytocin kann zur Geburtseinleitung gegeben werden, allerdings erst dann, wenn der Muttermund schon reif ist und sich öffnet. Oxytocin wird intravenös verabreicht. Laut DGGG führt Misoprostol zu weniger Kaiserschnitten als die anderen Wehenmittel. Grundsätzlich ist bei Einleitungen von Fall zu Fall abzuwägen, welches Mittel wann angewendet werden soll.

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