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dpa

Keine einheitlichen Standards : 100.000 Kinder sehen Eltern nur im Gefängnis: Was das mit ihnen macht – und was hilft

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Freitag, 14.02.2020, 17:52

Betonwände, Sicherheitsschleusen, Stacheldraht: Rund 100.000 Kinder in Deutschland müssen ins Gefängnis, wenn sie ihre Mutter oder ihren Vater besuchen wollen. Rund 64.000 Gefangene hierzulande haben minderjährige Kinder, die sie nur zu knapp bemessenen Besuchszeiten und in alles andere als kindgerechter Umgebung sehen dürfen. Das ist das Ergebnis der COPING Studie, die zwischen 2010 und 2012 erstmals untersucht hat, wie sich die Inhaftierung eines Elternteils auf Kinder auswirkt.

Mitautorin der Studie war Hilde Kugler. Sie selbst hat jahrzehntelang im Sozialdienst einer JVA gearbeitet und leitet heute den Nürnberger Verein „Treffpunkt“, der sich um Angehörige von Inhaftierten kümmert. „Unser Strafvollzug konzentriert sich auf den Inhaftierten und seine Resozialisierung. Seine Kinder werden oft vergessen und leiden. Das ist unwürdig“, sagt Kugler im Gespräch mit FOCUS Online.

Mit welchen Folgen betroffene Kinder leben müssen, zeigt die COPING-Studie. Hier die wichtigsten Ergebnisse:

Das größte Problem für Kinder, wenn ein Elternteil in Haft sitzt, sind den Studienautoren zufolge die eingeschränkten Besuchs- und Kontaktmöglichkeiten. Die Regelbesuchszeit im geschlossenen Vollzug liegt in Deutschland zwischen einer und vier Stunden pro Monat – zu wenig, um die Bindung zu seinem Kind aufrechtzuerhalten, sagt Kugler.

Zwar können straffällig gewordene Frauen mit ihren Kindern gemeinsam leben, zum Beispiel, wenn sie bei Strafantritt schwanger sind oder ein Baby haben. Dieser so genannte „Mutter-Kind-Vollzug“ wurde 2018 aber erst in 13 deutschen Haftanstalten angeboten. Je nach Bundesland können Mütter unterschiedlich lange in diesen Abteilungen bleiben. In manchen Gefängnissen müssen sie schon nach einem Jahr zurück in den Normalvollzug, in anderen erst wenn das Kind eingeschult wird.

Lange Tische, Trennscheibe, kein Körperkontakt

Dort bleibt oft nur noch das Telefon, um Kontakt mit ihren Kindern zu halten. Doch auch hier sind die Unterschiede innerhalb Deutschlands groß. Handys sind verboten. Dafür können Häftlinge in JVAs in Schleswig-Holstein mit ihren Angehörigen neuerdings skypen. In Bayern wäre das undenkbar. Dort ist in manchen Gefängnisse der Brief der einzige Weg nach draußen zu kommunizieren. Jedes Bundesland hat sein eigenes Strafvollzugsgesetz – und nimmt auch in unterschiedlichem Ausmaß Rücksicht auf Kinder.

 „In manchen Anstalten läuft es ab wie in einem amerikanischen Kinofilm: Kinder müssen an langen Tischreihen Platz nehmen, vor ihnen riesige Trennscheiben. Sie haben dann keinerlei Körperkontakt zu ihren Eltern“, sagt Kugler. In anderen Gefängnissen sei die Umgebung für Besuche schon kindgerechter gestaltet: „Es gibt inzwischen auch farbenfrohe Familienbesuchsräume mit Spielzeug, wo der Besuch viel weniger belastend ist für Kinder.“

Erklären, warum Mama oder Papa weg sind

Kuglers Verein „Treffpunkt“ setzt sich mit vielen Ideen dafür ein, dass der Besuch bei Mama oder Papa für die Kinder nicht zum Alptraum wird. Sie organisiert zum Beispiel professionelle Besuchsbegleitungen für Minderjährige oder Vater-Kind-Gruppen in JVAs. Damit betroffene Kinder überhaupt verstehen können, warum ihre Eltern plötzlich nicht mehr zuhause sind, hat „Treffpunkt“ die Website juki-online initiiert. Darauf wird kindgerecht erklärt, was es bedeutet, wenn Mama oder Papa ins Gefängnis müssen.

Jedes Kind hat Recht auf Zeit mit Eltern

Projekte wie die von „Treffpunkt“ helfen betroffenen Kindern und machen den Gefängnisbesuch erträglicher. Das Umfeld zu verändern, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Kein Kind sollte seine Eltern zwischen Stacheldraht und Zellengittern besuchen müssen. Doch was bringt ein schöner Besuch bei Papa, wenn nach einer Stunde der Wärter kommt und ihn zurück in seine Zelle bringt?

Kinder haben ein Recht darauf, ihre Eltern zu sehen und Zeit mit ihnen zu verbringen – auch wenn diese im Gefängnis sind. Dafür existiert ein verbindlicher Rechtsanspruch – niedergeschrieben in Art. 9 der UN-Kinderrechtskonvention.

Längere Besuchszeiten und einheitliche Standards

Über deren Einhaltung wacht die Monitoringstelle UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte. „Langsam wandelt sich das Bewusstsein dafür, dass auch Kinder betroffen sind, wenn Menschen eingesperrt werden“, stellt die Leiterin der Monitoringstelle, Claudia Kittel, fest. Trotzdem gibt es noch viel zu tun. Mindestens einmal pro Woche sollten Kinder ihre inhaftierten Eltern besuchen dürfen, kleinere Kinder noch häufiger, fordert Kittel und schließt sich damit einer Empfehlung des Europarates an.

Längere Besuchszeiten oder die Möglichkeit von Langzeitbesuchen für Familien erfordern freilich mehr Gefängnispersonal – und verursachen höhere Kosten. In Anbetracht der negativen Auswirkungen auf 100.000 Kinder sollten die Politiker über Investitionen in kinderfreundlichen Strafvollzug nachdenken. Und: Für inhaftierte Eltern sollte es keine Lotterie sein, ob sie weiterhin Kontakt mit ihren Kindern halten können - je nach dem, in welchem Bundesland sie einsitzen.

„Perspektiven“ bei FOCUS Online

Bei FOCUS Online sehen wir nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen. Wir verschweigen nicht, was schlecht läuft – aber wir zeigen auch, was dagegen getan wird und wie jeder Einzelne einen Beitrag leisten kann. Wir geben Menschen und Ideen Raum, die zur Bewältigung individueller und gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen. Um diese besonderen Geschichten zu erzählen, haben wir das K-Team gegründet. K für Konstruktiv. Alle Artikel des K-Teams finden Sie unter der Rubrik „Perspektiven“.

 

Im Video: JVA Dresden sucht Unternehmen

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