Porträt Milo Rau
Milo Rau: „Menschlich professioneller werden“
by Petra KohseWenn der Chef an der Abschaffung seiner Herrschaftsposition arbeitet: Eine Begegnung mit dem Theatermacher Milo Rau in Berlin.
Milo Rau kommt zu spät. Aber er hat nicht verschlafen, er braucht nur noch etwas mehr Zeit für eine andere Besprechung, wie er erklärt, als er um 9.45 Uhr ohne Jacke ins Café der Berliner Schaubühne stürmt. Er sitze bereits direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Kurfürstendammes, mit Kathrin Röggla zusammen, mit der er am Abend sein neues Buch vorstellen wird, wäre aber gleich da, die Kathrin hätte sich nur eben noch einen Tee bestellt.
An mindestens zwei Orten gleichzeitig sein zu müssen, ist wohl der Normalzustand für den 1977 geborenen Schweizer Theaterregisseur, Schriftsteller, Filmemacher, Soziologen und Weltreisenden, der seit eineinhalb Jahren in Belgien das NTGent leitet. Dort hat er zunächst das bisherige, durchgehend weiße Ensemble aufgelöst und sich und seinem Team ein Zehn-Punkte-Dogma verordnet, um endlich Ernst zu machen mit dem, was Theater seiner Ansicht nach sein muss: ein kollektiver Prozess mit dem Ziel, die Welt nicht nur abzubilden, sondern zu verändern. Politische, international vernetzte Arbeit auf der Grundlage eigens geschriebener Texte, bei der sich das – neu divers zusammengesetzte – Ensemble nicht schonen darf – Punkt neun des Genter Manifests besagt: „Mindestens eine Produktion in der Spielzeit muss in einer Konflikt- oder Kriegszone ohne jegliche kulturelle Infrastruktur geprobt oder aufgeführt werden.“
Milo Rau ist der Aktivist unter den Theatermachern des europäischen Festivalbetriebs, ein emsiger Arbeiter im Weinberg des großen historischen und politischen Projekts, der theatrale Bohrer an den blinden Flecken und neuralgischen Punkten der Gesellschaften, Feldforscher und Spielmacher in einem, konditionsstark, unendlich anspruchsvoll und entsprechend angreifbar.
In Berlin berief er vor zweieinhalb Jahren in der Schaubühne eine „Generalversammlung“ ein, in der er Repräsentanten eines heutigen „Dritten Standes“ um Wortmeldung bat. Seine jüngste Arbeit, die er zu einer „School of Resistance“ auszuweiten gedenkt, einer Schule des Widerstands, ist „Das Neue Evangelium“: eine Performance und ein Film über das Leben Jesu mit Geflüchteten, die in Süditalien als Erntearbeiter arbeiten, sowie Schauspielern aus den Passionsfilmen von Mel Gibson und Pasolini.
Die Rolle des Jesus hatte Rau mit dem kamerunischen Widerstandskämpfer Yvan Sagnet besetzt, der 2011 Proteste gegen die menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen auf den süditalienischen Plantagen initiierte. Das floss natürlich mit ein: christliche Heilsgeschichte trifft auf die globale Ausbeutung der Gegenwart. Eine nächste Arbeit über Widerstand ist schon in Vorbereitung, „Antigone im Amazonas“ mit Mitgliedern der brasilianischen Landlosenbewegung. Und Anfang 2021 findet in der Akademie der Künste (deren Vizepräsidentin die Dramatikerin Röggla ist) zur „Schule des Widerstands“ auch eine Ausstellung statt. Welche Lektionen sollen hiesige Kulturinteressierte daraus mitnehmen?
„Das weiß ich noch nicht“, sagt Milo Rau, der, als er von gegenüber erschienen ist, eine Stunde Zeit hat, bevor die Probe mit der Schauspielerin Ursina Lardi zu „Everywoman“ beginnt, eine Antwort auf den Hofmannsthalschen „Jedermann“ – die Premiere wird bei den Salzburger Festspielen sein. Tatsächlich ist Milo Rau Feminist. Wobei er das Weibliche nicht biologisch, sondern kulturell verstanden wissen will. Dass die Landlosenbewegung im Wesentlichen von Frauen angeführt und organisiert wird, „weil es die Männer einfach nicht bringen“, wie ihm die Frauen gesagt hätten, beeindruckt und inspiriert ihn.
Zur Person
Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist Regisseur, Autor, Essayist. Er studierte Soziologie, Germanistik und Romanistik in Paris, Zürich und Berlin, u. a. bei Tzvetan Todorov und Pierre Bourdieu. 1997 unternahm er erste Reportagereisen nach Chiapas und Kuba.
Mit seinen Theateraufführungenwar er oft auch in Frankfurt im Mousonturm zu Gast. Er kommt demnächst wieder mit dem Stück „Family“ (27. bis 29. Februar), in dem eine Familie eine Familie spielt.
Der Band„Das geschichtliche Gefühl: Wege zu einem globalen Realismus“ ist 2019 im Alexander-Verlag erschienen.
Denn die komplexe Art, wie dort vorgegangen werden müsse, um zu Unrecht privatisiertes Land effektiv besiedeln und damit eine Enteignung vorbereiten zu können, entspricht recht genau seiner Vision von künstlerischer Praxis, die er in einem Manifest aus dem Jahr 2009 in Abgrenzung zur handelsüblichen Kunst „Unst“ genannt hat. Darin heißt es: „Jeder Moment enthält das Messer, mit dem er vom Ünstler WIE VON ALLEIN geteilt werden kann.“ Das Vertrauen in den glückhaften Augenblick also. In die Gemeinschaft und in eine verbindende Bewegung. „Das ist das, was meine Kritiker nicht verstehen“, sagt Milo Rau: „Dass die glückliche Menschwerdung in der solidarischen Handlung einen Eigenwert darstellt.“
Von seinen Kritikern und auch eigener Kritikwürdigkeit spricht Milo Rau viel in dieser Stunde. Und das, obwohl er definitiv im Erfolgsflow ist: Gent rennt seinem Theater offenbar die Bude ein („Sobald der Spielplan raus ist, sind 80 Prozent der Aufführungen ausverkauft“), kommenden Monat wird ihm die Universität Gent einen Ehrendoktor verleihen (einen schwedischen hat er schon) und das Buch, das er mit Kathrin Röggla vorstellt, „Das geschichtliche Gefühl. Wege zu einem globalen Realismus“, flankiert Milo Raus Saarbrücker Poetikvorlesungen mit zwei aktuellen Gesprächen und ist auch für den Vielpublizierer Rau wieder mal ein schöner Anker in deutscher Sprache.
Aber Raus Aufmerksamkeit wird ja immer von den Schwächen des Systems angesaugt und weil er zwar ehrgeizig, aber nicht eitel ist, eben auch von den eigenen. Und da muss er sich in der „Kosmologie“, die er anstrebt, als weißer Mann mit Herrschaftsfunktion natürlich ebenso infrage stellen wie als von außen in die Verhältnisse platzender Regisseur, der Menschen, etwa die Landarbeiter in „Das Neue Evangelium“, für eine Produktion vor die Kamera holt und dann wieder auf die Plantagen zurückbringt. „Man tut nie genug für die Leute, mit denen man arbeitet“, sagt er. Auch Christoph Schlingensief stand vor dieser Frage. Seine Antwort darauf war die Gründung des noch heute bestehenden Operndorfes in Burkina Faso. Milo Rau hat mit Yvan Sagnet und seiner Dramaturgin Eva Bertschy in Matera die sogenannten „Häuser der Würde“ gegründet, in denen jetzt 50 der vorher obdachlosen Darsteller aus „Das Neue Evangelium“ leben.
Spürbar nachdenklich gemacht hat Milo Rau ein Fernsehbeitrag, der über ihn während der Arbeit an seiner Eröffnungspremiere am NTGent gedreht wurde, „Lam Gods“ über den Genter Altar der Brüder van Eyck. „In dem Beitrag sieht man, wie ich beim Inszenieren herumrenne, schreie, lache, weine, mich entschuldige, wieder schreie – nur der Wahnsinn ist zu sehen, nur das Pushen, nie das Versöhnliche danach. Als wäre ich ein irrer Tyrann. Und auch wenn mir das nicht gefällt, ist es gut, diesen getriebenen Teil von mir vor Augen geführt zu bekommen.“
An der Abschaffung seiner Herrschaftsposition zu arbeiten, hält Rau derzeit für geradezu dringlich. „Menschlich professioneller werden“, nennt er das. Mit Vollgas gelassener werden sozusagen. Und doch ist nicht ausgeschlossen, dass ihm auch das gelingt. Seine Intendanz will er in absehbarer Zeit schon mal zur Verfügung stellen. Weil die Diversitätsquote ja auch für ihn gelten müsse. „Das Genter Modell läuft darauf hinaus, dass ich in fünf Jahren weg bin und dass die Leute, mit denen wir die ganze Zeit schon arbeiten, die schwarzen Kuratoren*innen zum Beispiel, das Ganze übernehmen.“
Und an dieser Stelle fällt ihm dann doch noch eine Antwort auf die Frage ein, mit welchem Ziel hier im weißen Westen von der Widerstandskultur der Entrechteten gelernt werden muss: Um den eigenen Machismo zu bekämpfen. „Das größte Arschloch ist man lustigerweise selbst. Deswegen erkennt man dessen Gestalt ja auch so gut bei anderen.“
Da ist es auch schon nach 11 Uhr und Ursina Lardi tritt ins Schaubühnen-Foyer und hält nach Milo Rau Ausschau. „Selbstkritik“, ruft er noch, bevor er im Theaterinneren verschwindet. „Das Wichtigste ist die Selbstkritik!“, als sei dies der Titel eines soeben extemporierten neo-marxistischen Stückes. Die Dogmaschranke würde es zumindest passieren. Denn auch für Globalisierungsforscher ist das eigene Innere wohl fraglos noch immer das heftigste Krisengebiet.