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Stefanie Heigel (links) und Katja Schuster laden zu ihrer neuen Selbsthilfegruppe ein.
 ©Foto: Dennis Bartz

Gefühle im Schleudergang

Selbsthilfegruppe für Menschen mit Depression und Borderline - Von Dennis Bartz

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Landkreis Rotenburg. Stefanie Heigel und Katja Schuster aus Rotenburg leiten die neue Selbsthilfegruppe „Seelenauszeit“. Das Angebot richtet sich an Menschen, die an Depression oder an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung erkrankt sind. „Wir sind selbst Betroffene und haben festgestellt, dass es im gesamten Umkreis dafür noch kein Angebot gibt“, erklärt Heigel.

Die beiden Frauen waren gemeinsam für eine Therapie in der Tagesklinik der Rotenburger Diakonie. „Ich hatte danach das Gefühl, ins kalte Wasser zu fallen. Mit vielem, was ich dort gelernt hatte, konnte ich noch gar nichts anfangen. Mir fehlte eine Anlaufstelle, in der ich mich mit anderen über meine Erkrankung austauschen kann“, berichtet Schuster, die 2001 ihre Diagnose erhalten hat. „Ich war eine krasse Borderlinerin“, erinnert sie sich. Die Zukunftsprognose der damals 19-Jährigen war düster, aber mit viel Engagement und der Hilfe ihres Therapeuten hat sie es geschafft, sich ein selbstständiges Leben aufzubauen: „Ich habe heute eine Familie, Kinder und einen Job. Ich stehe mit beiden Beinen fest im Leben und möchte nun anderen helfen, das auch zu schaffen.“ Schuster ist heute 38 Jahre alt und hat einige Therapien hinter sich. Ihre Erfahrung möchte sie mit anderen teilen.

Den beiden Gruppengründerinnen ist dafür Netzwerkarbeit wichtig: „Wir tauschen uns unter anderem mit der Lebenshilfe, dem sozialpädiatrischen Zentrum und der Ziss als Zentrale für Selbsthilfegruppen im Landkreis aus. Wir nehmen regelmäßig an Fortbildungen teil“, so Schuster.

In der Gruppe sei jeder willkommen, der an Borderline oder Depression erkrankt ist, unabhängig davon, ob er bereits eine Therapie besucht hat oder nicht. „Wir wollen mittelfristig die Gruppe für Angehörige und Partner öffnen“, betont Heigel.

Die Behandlung beider Erkrankungen sei sehr ähnlich angelegt, berichtet Schuster: „Ich habe zuerst zehn Jahre lang eine Dialektische-Behaviorale Therapie (DBT) gegen Borderline gemacht, seit zwei Jahren mache ich eine intensive Therapie gegen Depressionen – die Ansätze sind beinahe identisch. Es ist in beiden Fällen eine Verhaltenstherapie, in der es darum geht, sein eigenes Tun besser zu reflektieren und krankhafte Anzeichen frühzeitig zu erkennen, um schneller eingreifen zu können.“

Viele Patienten, die an Borderline erkrankt sind, neigen ihrer Einschätzung nach früher oder später zur Depression. „Das ist häufig eine Folge- oder Begleiterkrankung“, berichtet Schuster. Während Borderline oft durch traumatische Erlebnisse im Jugendalter ausgelöst wird, könne eine Depression jeden treffen, und das „in jedem Alter“.

Typisch für Borderline sind Impulsivität, instabile aber intensive zwischenmenschliche Beziehungen, rasche Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild aufgrund von gestörter Selbstwahrnehmung. Hinzu kommen oft selbstschädigendes Verhalten, Gefühle innerer Leere, Dissoziationserlebnisse und Angst vor dem Verlassenwerden. „Es ist wie eine Waschmaschine im Kopf. Die Gefühle sind im Schleudergang. Borderline heißt übersetzt „grenzwertig“ – und das trifft es gut, denn Erkrankte finden ihre Grenzen nicht. Sie fühlen sich wie bei einer Depression leer und hilflos. Der Unterschied zwischen beiden Erkrankungen ist jedoch, dass sich Menschen mit Depression oft stark zurückziehen, während bei Borderline-Erkrankten selbstgefährdendes und selbstverletzendes Verhalten weit verbreitet ist. Sie neigen auch zu Medikamenten- und Alkoholmissbrauch.“

Heigel und Schuster wagen den Schritt in die Öffentlichkeit, um anderen Erkrankten dabei zu helfen, die Hemmschwelle abzubauen und über ihre Erkrankung zu sprechen. Besonders für Borderliner sei dies eine Herausforderung, weil sie vielen Vorurteilen ausgesetzt sind. „In Serien und Filmen sind Täter, die andere auf grausame Weise umbringen, meist Borderliner. Das macht es schwer für uns. Es muss viel mehr darüber gesprochen und aufgeklärt werden“, fordert Schuster.

Stefanie Heigel leidet seit ihrem 21. Lebensjahr an Depressionen, doch die Erkrankung blieb lange unentdeckt. Erst als ihre Ehe scheiterte und die Symptome erneut ausbrachen, startete sie eine Therapie: „Ich habe mein Leben aufgearbeitet. Dabei kam heraus, dass ich schon vorher alle ein bis zwei Jahre Schübe hatte.“

Schuster und Heigel stören sich an dem Begriff „Burn-out“: „Er klingt besser als Depression, im Grunde meint er aber dasselbe Krankheitsbild. Burn-out verbinden die Menschen mit jemandem, der zu viel arbeitet, Depression dagegen mit Schwäche und Faulheit. Das stimmt so nicht.“

Die Treffen der Gruppe „Seelenauszeit“ finden in entspannter Atmosphäre statt und haben wenig mit einer Gesprächstherapie gemein, stellen die Gründerinnen klar: „Wir sitzen an einem Tisch und machen zunächst eine Blitzlichtrunde. Jeder erzählt dabei in ein, zwei Sätzen, wie es ihm geht, und spricht an, wenn er Rat braucht oder etwas Wichtiges passiert ist.“ Im Anschluss daran tauschen sich die Teilnehmer über sogenannte Skills aus, also über „Werkzeuge“, die sie anwenden können, stellen Krisenpläne auf und sprechen über den Umgang mit den eigenen Kindern. „Das ist uns besonders wichtig. Viele Erkrankte sind sich zudem unsicher, mit wem sie über ihre Erkrankung sprechen sollten. Auch diese Frage klären wir gemeinsam.“

• Die Selbsthilfegruppe „Seelenauszeit“ ist bei der Zentralen Informationsstelle Selbsthilfe – Selbsthilfekontaktstelle – im Landkreis Rotenburg (Ziss) eingetragen. Treffen ist jeden zweiten Mittwoch, 16.30 bis 18 Uhr, in den Räumen der Lebenshilfe in der Bergstraße 1, nächster Termin ist am 19. Februar. Fragen richten Interessierte per E-Mail an seelenauszeit@gmx.de, auf diesem Wege sind auch Anmeldungen möglich. „Eine kurze Vorstellung ist uns wichtig. Wir behandeln alle Infos vertraulich“, betont Stefanie Heigel. Die Gruppe sucht mittelfristig einen Raum, den sie alle zwei Wochen mittwochs für eineinhalb Stunden nutzen kann.