Aus dem Traum wird Realität
Die elektrische Alternative zur S-Klasse von Mercedes-Benz kommt in Fahrt. Doch noch muss sie den Verbrennern den Vortritt lassen.
by T. GeigerBislang war er der uneingeschränkte Blickfang: Wo immer der Mercedes Vision EQS nach seiner IAA-Premiere im September 2019 aufgetaucht ist, galt dem elektrischen Luxusliner die ungeteilte Aufmerksamkeit.
Doch so langsam muss sich Chefdesigner Gorden Wageners Traumschiff mit dem Platz in der zweiten Reihe bemühen. Denn während das Schaustück weiter vor jede Kamera gezerrt wird, läuft sich im Hintergrund das Serienmodell warm und rückt seine stark getarnte Karosse bisweilen kess ins Bild: «Wartet nur, bald kommen wir auch», lautet die unverhohlene Kampfansage an Autos wie das Tesla Model S und den Porsche Taycan, die zwar sportlicher geschnitten sind, aber sehr wohl im gleichen Teich fischen. Weil dieses «bald» aber noch immer mindestens 12 Monate dauert und die Stuttgarter vorher erstmal den Nachfolger der konventionellen S-Klasse vom Stapel lassen müssen, sind die amtlichen Infos zu den offiziellen Erlkönig-Fotos bis dato eher dürftig.
Wunsch und Wirklichkeit
Macht nichts! Schliesslich hat Baureihenleiter Jörg Bartels ja genug über die Studie verraten – und es braucht nicht viel zu der Erkenntnis, dass sich Wunsch und Wirklichkeit zumindest aussen ziemlich nahe sind. Auch das Serienmodell wird deshalb mehr als fünf Meter lang und ist in Bausch und Bogen gezeichnet: Der klassische Stufenschnitt der Limousinen wird aufgelöst und die S-Klasse sieht plötzlich ziemlich altbacken aus. Und selbst wenn es wohl weder die Hologramm-Scheinwerfer noch einen digitalen Kühlergrill mit LED-Matrix und wohl auch kein Heckleuchtenband mit 229 illuminierten Mercedes-Sternen geben wird, dürfte der EQS eine hübsche Lightshow abziehen.
Die Technik unter dem neuen Hut ist für Mercedes fast noch wichtiger: Denn nachdem Mercedes bislang nur konventionelle Plattformen umgerüstet hat, leisten sich die Schwaben zum ersten Mal eine dezidierte Elektroarchitektur und können alle Packaging-Vorteile nutzen: Die Überhänge werden kürzer und der Innenraum bietet entsprechend mehr Platz und anders als der erhältliche Elektro-SUV EQC hat der Vision EQS auch keinen Hängebauch mehr, sondern der Akku verschwindet tatsächlich komplett im Wagenboden.
Dabei ist er grösser denn je. Denn um adäquate Fahrleistungen zu bieten, wird bei Mercedes mal wieder geklotzt statt gekleckert. 100 kWh soll die Batterie mindestens haben, stellen die Entwickler in Aussicht und versprechen eine Reichweite von über 700 Kilometern. Und weil theoretisch mit 350 kW geladen wird, sind die Zellen binnen weniger als 20 Minuten zu 80 Prozent voll. So schnell wie beim Laden ist die Vision EQS auch beim Fahren: Mit knapp 370 kW (500 PS) und nahezu 800 Nm beschleunigt der voll variable Allradantrieb in weniger als 4,5 Sekunden auf Tempo 100 und erlaubt mehr als 200 km/h.
Visionäres Konzept
So durchdacht und zukunftsträchtig das Konzept auch sein mag, hat es allerdings ein Problem: Parallel zum elektrischen Luxusliner entwickelt Mercedes gerade auch eine neue S-Klasse aus der alten Welt. Deshalb haben die Schwaben den Start der beiden Modelle schon mal um neun Monate auseinandergezogen und lassen den EQS frühestens in einem guten Jahr von der Leine. Und natürlich predigt Baureihenleiter Bartels im vorauseilenden Gehorsam eine friedliche Koexistenz der beiden Topmodelle, denkt an zwei sehr unterschiedliche Zielgruppen mit nur geringer Überschneidung und spricht lieber von Ergänzung als von Verdrängung, selbst wenn sie unterschiedliche Architekturen nutzen: «Das eine Auto hat das andere befruchtet und beide für sich alleine wären so nicht möglich gewesen», spricht er wie ein Mantra.
Doch entweder der EQS oder die S-Klasse haben ein Problem – denn an der Spitze kann es nur einen geben. Und nur eines der beiden Autos kann den Claim erfüllen, den das Mercedes-Flaggschiff für sich gerne in Anspruch nimmt: Das beste Auto der Welt.