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Der Schriftsteller Peter Wawerzinek in „Lievalleen“, der über sein Leben und das seiner Schwester Beate berichtet.Foto: © Peter Wawerzinek, Steffen Sebastian
Der ganze Schmerz

Peter Wawerzinek über sein Schicksal als Heimkind

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Berlin - „Lievalleen“, Mutterseelenallein. So heißt der Film, davon handelt er. Und davon, was Menschen Menschen antun können - und wie man das überstehen kann. „Lievealleen“ geht auch dem, der das Schicksal des Berliner Schriftstellers Peter Wawerzinek kennt, nahe. Sehr sogar. Nicht zuletzt deshalb, weil Wawerzinek, der Mitautor und -regisseur sowie Protagonist des Dokumentarspiels ist (denn gespielt wird eben auch darin), seiner Schwester Beate gleichfalls Gesicht wie Stimme gibt. Und dabei die Würde herausstellt, die sich die Frau in langen, dunklen Jahren selbst erkämpfen musste.

Ein ganz und gar ungewöhnlicher Film, der ab jetzt seinen Weg in ausgewählte Studiokinos der Republik nehmen wird. Am Mittwochabend hatte „Lievalleen“ in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin Premiere. Auch das ist kein alltäglicher Vorgang. Wawerzinek ist dem Ostberliner Traditionshaus über viele Jahre verbunden. Oft hat man ihn, der in den letzten Jahren der DDR gemeinsam mit dem halleschen Dichterkollegen Matthias „Baader“ Holst als Vagant durch die Lande zog, dort zu Premieren getroffen. Immer von einer Korona aus Freunden und Bewunderern umgeben - und dabei oft allein mit sich, seiner Trauer und seiner Wut, gegen die der Suff, wie er selbst am besten weiß, doch nicht helfen kann.

Mehr als 750 Leute waren gekommen, um den Film und Peter Wawerzinek zu sehen: buntes Volk und alte Freunde darunter, in Ehren ergraute Kiezbewohner vom Prenzlauer Berg. Der Autor war eigens aus Rom eingeflogen, wo er derzeit Stipendiat der Villa Massimo ist. Das ist ein Ritterschlag für einen Künstler dieses Landes. Viel mehr geht nicht.

Bevor aber der Film über die Kindheit und Jugend des Heimkindes Wawerzinek und seiner Schwester begann, gab es eine Hörperformance des Künstlers und Komponisten Bob Rutman. 1931 in Berlin als Sohn einer jüdischen Mutter geboren und im Exil aufgewachsen, hat er jetzt mit den Klängen seiner Stahlharfe den passenden Ton vorgegeben: Rutman streicht aufragende Metallstäbe mit einem Bogen, die Klänge sind schrill bis sphärisch.

„Lievalleen“ erzählt in poetischen und harten Bildern, in dokumentarischen und gespielten Sequenzen, was den Geschwistern 1957 in Rostock geschah - und welche Wirkungen es auf die beiden hat, bis heute.

Die Eltern hatten ihre beiden Kinder, drei und zwei Jahre alt, allein in der Rostocker Wohnung zurückgelassen und „machten rüber“. Immerhin ließen sie das Wasser laufen, so fanden die Kleinen zu trinken. Nachdem die Polizei die Wohnung geöffnet hatte, kamen Beate und Peter ins Kinderheim und wurden getrennt. Für viele Jahre.

Wawerzinek hat das Thema später, mit mehr als 50 Jahren, in seinem autobiografischen Buch „Rabenliebe“ bearbeitet, abgeschlossen wird es nie sein. Für das Buch hat er vor zehn Jahren den Bachmann-Preis bekommen. Seine Schmerztherapie nannte er den Text: „Man muss sich einen Schmerz zufügen, um den anderen zu übertönen“, sagte Wawerzinek im MZ-Gespräch.

Immerhin, diese Möglichkeit hat er sich geschaffen. Hat sich durchgebissen und ist immer wieder aufgestanden. Hat gegen den Schmerz angeschrieben. Seine Schwester Beate dagegen hat es ungleich härter getroffen. Fand Peter in einer inzwischen verstorbenen Heimerzieherin, die im Film zu Wort kommt, eine Fürsprecherin, wurde Beate als „auffällig“ in die Psychiatrie abgeschoben. 15 Jahre lang.

Beate hat als Wäscherin gearbeitet, sie zeigt ihrem Bruder ihren letzten Arbeitsplatz. Ist stolz auf die Knochenarbeit, die sie beherrschte. Und während man ihr zusieht, wie sie große Wäschestücke in eine Mangel schiebt, fragt man sich auch: Warum durfte dieses Menschenkind nicht jemals eine andere Chance bekommen?

Peter hat als Kind in seinem Zauberwald an der Ostsee gesessen und aufs Meer gestarrt: Irgendwo dort, weit hinter dem Horizont, musste die Mutter sein. Als er sie Jahrzehnte später endlich fand, gab es nichts zu besprechen. Die Szene wird nachgespielt, bewusst als Drama überhöht und wirkt um so trauriger.

Die Musik zum Film hat die legendäre Ostberliner Band „Herbst in Peking“ beigesteuert. Auch Freunde des Autors. Sie spielten nach der Premiere noch ein Konzert. Laut und schön und lebendig. Ein Abend, der bleiben wird. Wohl auch für Wawerzinek. Der ist am Morgen danach schon wieder abgedüst. Nach Rom. (mz)