Gastbeitrag von Gabor Steingart: Nach dem Thüringen-Debakel beginnt in der CDU die Zeit der Merkel-Rebellen
by FOCUS OnlineDie CDU schneidet bei den Wählern im Osten Deutschlands zunehmend schlechter ab. Von der Schwindsucht der Partei profitiert vor allem die AfD, das zeigen neue Zahlen. Und auch die Kritik am Modernisierungskurs der Kanzlerin wird durch den Misserfolg der CDU genährt.
Der Berliner CDU-Führung entgleitet der deutsche Osten. Erst gingen die Wähler stiften, nun auch die Funktionäre. Die ehemalige DDR entwickelt sich für die CDU immer mehr zum Feindesland.
► Stellte die CDU unmittelbar nach der Wiedervereinigung in vier der fünf neuen Bundesländer den Ministerpräsidenten, sind es derzeit nur noch zwei. In Sachsen – wo Kurt Biedenkopf einst absolute Mehrheiten holte – ist die AfD zur zweitstärksten Kraft aufgeschossen, genauso wie in Sachsen-Anhalt. In Thüringen, einst das Stammland von CDU-Ikone Bernhard Vogel, rangiert sie mittlerweile vor den Konservativen.
► Zwischen der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Jahr 1990 und der Bundestagswahl 2017 fiel das CDU-Ergebnis in Ostdeutschland von 41,8 Prozent auf 27,6 Prozent. In Westdeutschland verlor die CDU im gleichen Zeitraum ebenfalls, aber deutlich weniger.
► Die Wählerwanderung zeigt: Von der Schwindsucht der CDU profitiert vor allem die AfD. In Thüringen verloren die Konservativen bei der letzten Landtagswahl mit 36.000 die meisten Stimmen an die Rechte. Auch in Sachsen verlor die CDU bei der letzten Landtagswahl die meisten Menschen an die AfD – 84.000 Wählerinnen und Wähler.
► Scheinbar aus dem Nichts konnte sich die AfD im Osten festsetzen. Mittlerweile ist die Rechtspartei in allen fünf Landtagen vertreten und stellt dort 118 der insgesamt 455 Abgeordneten.
Merz lacht, das Publikum johlt: Moderator fragt Merz wiederholt nach CDU-Vorsitz
In der CDU beginnen die Tage der Merkel-Rebellen
Der Misserfolg der CDU vor Ort nährt eine Stimmung, die sich zunehmend gegen den Modernisierungskurs von Angela Merkel richtet. Ihr Diktum – keine Kooperation mit Links wie Rechts – erfreut sich wachsender Unbeliebtheit. Die Aufmüpfigen haben in diesen Tagen ihren Auftritt:
► Ingo Senftleben, der Ex-CDU-Spitzenkandidat für Brandenburg, sagt im Deutschlandfunk , „dass wir es uns als Union zu einfach gemacht haben mit dem Ausschließen Richtung Links und Rechts.“ Vor allem die Abgrenzung zur Linkspartei empfindet er als störend: "Ein einfaches Nein bildet nicht die Lebensrealität ab.“
► Michael Heym, Fraktions-Vize der CDU im Thüringer Landtag, giftet die Kanzlerin an, weil sie eine Revision der Wahl in Erfurt verlangt hatte: „Da habe ich mich an tiefste DDR-Zeiten erinnert gefühlt.“ Leute, die vor 30 Jahren für die Demokratie auf die Straße gegangen seien, seien „angewidert von den etablierten Parteien“.
► In der Thüringen-CDU wird nun ein Affront der Extraklasse gegen Merkel vorbereitet. Ausgerechnet der von ihr als Ost-Beauftragter geschasste Christian Hirte soll neuer Landeschef werden.
► Den Tabubruch wagte Lars-Jörn Zimmer, Vize-Fraktionschef der CDU in Sachsen-Anhalt. Im ZDF bezeichnet er mit Blick auf die Landtagswahlen 2021 eine von der AfD tolerierte CDU-Minderheitsregierung als „absolut denkbar“ und rief Merkel und CSU-Chef Markus Söder zu: "Kommt aus eurem Elfenbeinturm in Berlin oder München mal raus. Ich kann keine 25 Prozent der Wähler vor den Kopf stoßen und sagen: Mit euren Vertretern rede ich nicht, was ihr wollt, was ihr sagt, ist mir egal.“
Fazit: Die Spaltung der Union ist nur das Abbild des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens zwischen Ost und West. Es kommt zu immer neuen Abstoßungsreaktionen.
Hatte sich die DDR nicht an einer Überdosis Volk vergiftet?
Die Nischengesellschaft der ehemaligen DDR will Nische bleiben, bewahrt gerade in dieser Widerborstigkeit gegenüber westlichen Werten und Worten ihre Authentizität. Das Wort „Wendehals“, einst benutzt zur polemischen Etikettierung eines vermeintlichen DDR-eigenen Opportunismus, straft sich selbst lügen. Da wendet nichts. Der Hals bleibt starr und stur.
Das ist es ja, was das Konrad-Adenauer-Haus in den Wahnsinn treibt. Jede neue Depesche aus Berlin, jeder neue Ukas aus dem Mund der Kanzlerin, jede weitere Entlassungsurkunde eines Ostlers wird zum Fanal eines grimmigen Widerstandes. Wenn man am Anfang dieser deutsch-deutschen Großfusion schon nicht wehrhaft war, will man wenigstens am Ende der Verschmelzung ein Wörtchen mitzureden haben. Und dieses Wörtchen heißt: Nein.
Zur Person
Gabor Steingart zählt zu den bekanntesten Journalisten des Landes. Er gibt den Newsletter „Steingarts Morning Briefing“ heraus. Der gleichnamige Podcast ist Deutschlands führender Daily Podcast für Politik und Wirtschaft. Im Frühjahr 2020 zieht Steingart mit seiner Redaktion auf das Redaktionsschiff „Pioneer One“. Vor der Gründung von Media Pioneer war Steingart unter anderem Vorsitzender der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group.
Sein kostenloses Morning Briefing finden Sie hier: www.gaborsteingart.com
Die westliche McKinsey-Gesellschaft mit ihrem Hang zur Selbstbeschleunigung und die Konformität der Nonkonformisten wird mit der gleichen Inbrunst abgelehnt wie die westdeutsche Besatzungsmacht der sogenannten Volksparteien. Hatte sich nicht die DDR an einer Überdosis Volk vergiftet? Volksrepublik. Volksbefreiungsarmee. Volkskammer. Und nun eben diese Berliner Volksparteien.
Die gesellschaftliche Konvention, für den Theatermacher Frank Castorf eine zivilisatorische Erfindung, um das Bestialische in uns Menschen zu bändigen, wird ein ums andere Mal gesprengt. Jede neue Unbotmäßigkeit der Ost-Wähler wirkt vor Ort stimulierend. Frank Castorf: "Die verdrängte Natur, die man in sich trägt, wird durch Verrat an der Konvention befreit.“
Thüringen bleibt für Lindner Land der Fettnäpfchen
Das Konrad-Adenauer-Haus wird die tiefere Bedeutung dieses Satzes in den kommenden Monaten erst noch erfahren. Vielleicht braucht die Bundesregierung gar keinen Ostbeauftragten, sondern nur einen kulturell begabten Dolmetscher. Vielleicht sollte Angela Merkel bei Frank Castorf einfach mal durchklingeln.
Noch läuft alles den traditionellen Weg. Der junge CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz aus Chemnitz ist neuer Ost-Beauftragter der Bundesregierung. Der bisherige Staatssekretär für Heimatschutz im Innenministerium spricht mit „Welt“-Vize Robin Alexander im Morning Briefing Podcast über seine Pläne. Er will vor allem nicht als Adlatus der Kanzlerin auftreten: "Ich bin Anwalt der ostdeutschen Interessen gegenüber der Bundesregierung.“
Thüringen bleibt für den FDP-Vorsitzenden Christian Lindner das Land der Fettnäpfchen. Im „Tagesspiegel“ machte der Liberale den Vorstoß, sich an der Übergangsregierung in Österreich zu orientieren und einen Verfassungsrechtler zum thüringischen Interims-Ministerpräsidenten zu wählen. Lindner schlug Stefan Kaufmann, den Präsidenten des Thüringer Verfassungsgerichtshofes, vor, allerdings ohne dies vorher mit ihm besprochen zu haben.
Der Kandidat wider Willen war über das Jonglieren mit seinem Namen nicht amüsiert. Er gab in aller Deutlichkeit zu Protokoll: "Es ist unprofessionell, einen Namen zu nennen, ohne die Person zu fragen.“
Autsch. Warum hauen eigentlich alle immer auf dieselbe Backe?
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