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Die türkische Autorin Aslı Erdoğan lebt inzwischen in Deutschland.
(Foto: Sebastian Willnow/dpa)

Prozess gegen Aslı Erdoğan - Interpretierte Indizien

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Wenn an diesem Freitag die Richter in Istanbul zusammentreten, um über sie zu urteilen, will die Autorin Aslı Erdoğan weit weg sein. In ihrer Heimat Türkei lebt sie ohnehin nicht mehr. Als man ihr im September 2017 nach 132 Tagen Untersuchungshaft und mehreren Monaten Ausreisesperre den Pass wiedergab, verließ sie unverzüglich und schwer krank das Land. Doch auch in Berlin, wohin Erdoğan Anfang Januar nach zwei Jahren Aufenthalt in Frankfurt am Main gezogen ist, will sie die aufwühlenden Prozesstage nicht verbringen. "Ich fühle mich dort nicht sehr wohl, es gibt eine feindlich gestimmte türkische Community", sagt sie bei einem Treffen kurz vor ihrer Abreise. So hat sie sich für ein paar Tage ein weiteres Exil gesucht.

Haft von bis zu neun Jahren fordert der Staatsanwalt in Istanbul, der ihren Fall im Januar übertragen bekam - zuvor war das Verfahren drei Jahre vor sich hingedümpelt. Die Vorwürfe, die er gegen die 1967 geborene Erdoğan erhebt, lauten wie so oft in diesen Zeiten in der Türkei: "Propaganda für eine illegale Organisation", "Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation" und "Aufstachelung des Volks zu Hass und Feindseligkeit". In insgesamt vier Texten soll Erdoğan 2016 die Sache der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK befördert und den türkischen Staat sowie seine Streitkräfte herabgesetzt haben.

Beanstandet werden auch zwei literarische Texte der Autorin

Mit ähnlichen Vorwürfen hat die türkische Justiz in den Jahren nach dem gescheiterten Putschversuch Dutzende Medienschaffende festgenommen. Allein 2019 wurden nach Zählung von "Reporter ohne Grenzen" 39 Journalisten zu Haftstrafen von addiert 222 Jahren verurteilt. Und auch, wenn die Verhaftung des ehemaligen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel selbst nach Meinung des türkischen Verfassungsgerichts rechtswidrig war, der von Ende Februar 2017 an ein Jahr und zwei Tage in Haft saß, geht der Prozess gegen ihn an diesem Donnerstag weiter. Auch im Fall der deutschen Journalistin Meşale Tolu wird am 25. Februar erneut verhandelt.

Die Festnahme von Aslı Erdoğan begründeten die Behörden 2016 mit ihrer Mitgliedschaft im Beratungsgremium der prokurdischen Zeitung Özgür Gündem. Andere Beiräte wie die Linguistin Necmiye Alpay stehen nun ebenfalls wieder vor Gericht, zudem die früheren Chefredakteure Eren Keskin und Zana Kaya. Für das Blatt schrieb Erdoğan Kolumnen, die auch den Tod von Zivilisten beim Vorgehen der Armee gegen kurdische Städte behandelten. Nach Ansicht der Anklage hat Erdoğan hier mutwillig PKK-Mitglieder umetikettiert, anders könne es nicht sein, da der Staat grundsätzlich keine Zivilisten umbringe. Das mag eine absurde Argumentation sein. Besonders besorgniserregend ist jedoch, dass der Staatsanwalt den Vorwurf der Terrorpropaganda bei Aslı Edoğan weit über unliebsame journalistische Arbeiten hinaus ausdehnt: Beanstandet werden auch zwei literarische Texte von ihr.

Im Essay "Faschismustagebuch: Heute", der sich reichlich abstrakt mit der Psyche des Einzelnen in Unterdrückungsapparaten auseinandersetzt, tauchen an keiner Stelle geografische oder zeitliche Anhaltspunkte auf. "Das macht dieses Verfahren so traurig", so Erdoğan zur SZ. "Literatur ist kein Autopsiebericht, der nur eine Deutung zulässt. Sie hat per Definition mehrere Interpretationsmöglichkeiten und Bedeutungsebenen." Wenn sich die Justiz nun aber mit einem Urteil gegen sie anmaße, die einzig gültige Bedeutung literarischer Texte festlegen zu können, öffne das die Tore für noch größere Willkür, so Erdoğan. Einen vergleichbaren Kollaps der Rechtsstaatlichkeit habe sie in der Türkei noch nicht erlebt, sagt die Autorin, die seit Jahrzehnten aneckt, weil sie Tabus wie Rassismus, den Völkermord an den Armeniern und nun eben die Kurdenfrage thematisiert. "Und das sage ich als Mensch, der zwei Militärjuntas überstanden hat."

© SZ vom 13.02.2020/cag
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