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Jonathan Coe schickt sein Alter Ego Benjamin Rotter diesmal ins Herz Englands. Caroline Irby

Jonathan Coe: Ein Abgesang auf Englands Mitte

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In „Middle England“ (er-)findet Jonathan Coe die Menschen hinter den Schlagzeilen um das Brexit-Drama und zeichnet die Geschichte dieser Spaltung über acht Jahre nach.

Mit einem Begräbnis lässt Jonathan Coe seinen Roman „Middle England“ beginnen – und tatsächlich ist das jüngste Buch des britischen Erfolgsautors eine große Geschichte des Abschiednehmens. Erst stirbt die Mutter der Hauptperson Benjamin Rotter, dann zerfällt das Heimatland: „Adieu to old England, adieu“, hört er sich am Abend der Beisetzung ein wehmütiges altes Volkslied an, nachdem er seinen verwirrten und orientierungslosen Vater zu Bett gebracht hat.

Benjamin, das bereits aus früheren Büchern Coes bekannte Alter Ego des Autors, hat sich nun in den englischen Midlands niedergelassen. Seinen Wohnsitz in London hat er für eine Mühle am Land aufgegeben. Frei von drängenden materiellen Nöten widmet er sich dem Verfassen eines Werks, das so groß konzipiert ist, dass es den Keim des Scheiterns schon in sich trägt. Er tröstet sich, indem er stundenlang dem Fluss vor seinem Haus zuhört. Nichts und niemand drängt ihn.

Denn die Uhren gehen auf dem Land anders als in der hektischen Metropole London. Bridgnorth, Alveley, Much Wenlock und Cressage heißen die Dörfer, durch die Rotter fährt, wenn er sich der Großstadt Birmingham nähert. Doch von Idylle ist auch hier längst keine Spur mehr. Die Normierung des Landes in einer globalisierten Dienstleistungsgesellschaft hat tiefe Schneisen geschlagen. Wo einst ein Pub, ein Postamt, eine Kirche und ein Greißler die Ordnung des Lebens dargestellt haben, stehen heute nur mehr Fassaden. Ausgesaugt wurden die Dörfer von monströsen Einkaufszentren, die zugleich Erlebniswelten sein wollen.

Langer und schmerzhafter Prozess. Coe gelingt es durch die zahlreichen Personen seines Romans, den Brexit als einen langen und schmerzhaften Prozess begreiflich zu machen. Sein Buch, das von der britischen Kritik gefeiert wurde, reicht über acht Jahre und beginnt im April 2010, unmittelbar vor der Rückkehr der Konservativen in die Regierung nach 13 Jahren Opposition. Die Spaltung, die sich 2016 in der EU-Volksabstimmung als eine irreversible politische Tatsache manifestiert, hat schon viel früher begonnen. Und sie sitzt tief: Sie geht durch Gemeinden, Bildungsschichten und Familien. In einem letzten Aufflackern geht Benjamins Vater am 23. Juni 2016 zur Volksabstimmung, um gegen die EU-Mitgliedschaft zu stimmen. Er tut es, weil er glaubt, seinen Kindern damit etwas Gutes zu tun.

Seine Enkeltochter Sophie, die Nichte Benjamins, hingegen verkörpert die suchende Jugend des Landes. Eine ausgezeichnete Bildung und ein scharfer Verstand garantieren ihr nämlich noch lange keine glänzende Karriere. Wie alle ihrer Generation muss sie sich einem gnadenlosen Wettbewerb stellen. Ihre Beziehung mit Ian beginnt nicht nur aus Liebe und Leidenschaft, es ist auch eine Anziehung der Gegensätze. Als der Fahrlehrer Ian nach der ersten gemeinsamen Nacht Frühstück holen geht, ist die Jungdozentin Sophie von der sterilen Leere seiner Wohnung fasziniert, in der kein Buch auf Wissensdrang hinweist.

Weiter weg als Middle Earth. Die spätere Auseinandersetzung um den Brexit treibt auch in diese Beziehung ihren Keil. Über seine eigene Position lässt Autor Jonathan Coe keinen Zweifel, nicht immer entgeht er der Klischeefalle, aber niemals verhöhnt oder verurteilt er. Als Sophie einen Freund in London besucht, erwidert sie auf seine Hauptstädterarroganz: „Besuche mich in Birmingham! Es wird dir die Augen öffnen.“ Nur zwei Stunden liegen zwischen den beiden größten Städten Großbritanniens. Oft sind es zwei Welten. Middle England ist für viele weiter weg als Middle Earth, das Sagenreich der Hobbits. Der Brexit war das Urteil darüber.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2020)