Als vor 75 Jahren die "Wilhelm Gustloff" in der Ostsee versank, war er ganz in der Nähe
by Bernd FacklerKarl "Charly" Eggen ist ein heiterer Mensch, auch mit 94 Jahren. Vor 75 Jahren war er ganz dicht dabei, als ein sowjetisches U-Boot das deutsche Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" versenkte.
Dass es sehr gefährlich war, lebensgefährlich, diese Flucht im Zweiten Weltkrieg im Januar 1945 über die Ostsee, wo russische U-Boote lauerten, das wusste man. Dass Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten – Frauen, Männer, Kinder, Alte wie auch Soldaten – überhaupt in diese schlimme Lage kamen, hatte man den Nationalsozialisten zu verdanken, die viel zu lange mit fanatischen – man könnte ergänzen: idiotischen – Durchhalteparolen der Bevölkerung verboten hatten, vor den anrückenden Russen zu fliehen (wobei der oberste Nazi dort, Gauleiter Erich Koch, sich am Schluss per Flugzeug aus dem Staub machte).
So drängte sich, als Ostpreußen schon verloren war, alle in den Häfen. "Es war alles so chaotisch", sagt Karl Eggen, der als Funk-Obergefreiter auf der "Oranje Fontein", ursprünglich ein Passagierschiff aus den Niederlanden, Dienst tat. Die "Oranje Fontein" lag in Gotenhafen (ehemals Gdingen, heute Gdynia, liegt nahe Danzig) wie auch die deutlich größere "Wilhelm Gustloff" und andere Schiffe vor Anker. "In Gotenhafen war nun fast die gesamte deutsche Flotte, weil das am weitesten weg war von alliierten Luftangriffen", so Eggen und weil man nun fünf nach zwölf möglichst viele Flüchtlinge über die Ostsee wegbringen wollte.
Während auf der "Oranje Fontein" ungefähr 1000 Menschen waren, "darunter etwa 200 höhere Marineoffiziere" weiß Eggen noch, wurde die eigentlich für 1463 Passagiere plus 417 Mann Besatzung zugelassene "Wilhelm Gustloff" "bis unters Dach" mit der fünffachen Zahl vollgepfercht. Da gab’s keine Ordnung mehr, "das war das Chaos", so Eggen. "Da war ein Gedränge drauf wie die Heringe; manche kriegten Angst, gingen von selbst wieder runter". Andere mussten wieder runter, weil etwa neue verletzte Soldaten noch mit sollten. Kleine Randnotiz: Reinhard Haiss, in dessen Elzacher Haus "Charly" Eggen seit Jahren als Mieter wohnt, sollte ursprünglich als blutjunger Soldat auch mit auf das Unglücksschiff, "aber dann wurde wieder umsortiert", er wurde wieder runtergeschickt, wie er Eggen Jahrzehnte später erzählte. Ähnlich Haiß’ späterer Elzacher Freund Karl Fackler, der als 19-Jähriger Landser mit seiner Einheit ebenso für den Transport mit der "Gustloff" vorgesehen war – auch das warf man kurzerhand wieder um. Schließlich – als Kind – Manfred Petrick, der später als Flüchtling ins Elztal kam.
Am 30. Januar lief die "Gustloff" dann aus. Wobei man nicht den sichereren Weg in der Nähe der flacheren Küste entlang nahm, sondern, wegen der Überladung, die Route durchs tiefere, gefährlichere Wasser wählte – da lauerten die Sowjet-U-Boote. Karl Eggen: "Die Russen haben da gewartet. Die wussten ja, dass alle nach Westen wollten. Und die ’Gustloff’ war der dickste Fisch, vollgepfercht mit Menschen. Kam deshalb auch langsam angeschaukelt, da konnten die Russen in aller Ruhe das Ziel angehen". Um 21 Uhr wurde das Schiff vom sowjetischen U-Boot S-13 gesichtet. Dieses schoss um 21.15 Uhr aus 700 Metern vier Torpedos ab, drei waren Volltreffer: "Bug, Mittelschiff, Heck", weiß Eggen genau: "Und in einer Stunde war alles vorbei". Denn gegen 22.15 Uhr sank das Schiff, etwa 23 Seemeilen von der Küste Pommerns entfernt. Nach neuesten Forschungen starben über 9000 Menschen, also ein Vielfaches gegenüber der "Titanic-"Katastrophe von 1912.
Während die "Wilhelm Gustloff" auf ihr Verderben zusteuerte, ging kurze Zeit später in Gotenhafen die "Oranje Fontein" mit Karl Eggen auf Seefahrt. Welche schnell ein vorläufiges Ende fand, denn sie lief auf eine Sandbank vor der Halbinsel Hela auf – ohne Schaden am Schiff. Wodurch es auf dem Weg nach Westen erst mal nicht weite ging, man aber auch vor U-Boot-Angriffen sicher war. In den letzten Jahren sinniert Karl Eggen öfters, ob die Ursache für dieses Stranden das stürmische Wetter, unglückliches Navigieren, eine Panne, Zufall oder womöglich Absicht war, weil die hohen Marineoffiziere an Bord vielleicht mehr über die drohende U-Boot-Gefahr wussten...?
Helfen konnte die festsitzende "Oranje Fontein" den Menschen der "Gustloff" (von deren Unglück man über Funk bald erfuhr) somit nicht. Allerdings, und hier gibt es eine Parallele zur "Titanic" – es gab auf der "Gustloff" viel zu wenig Rettungsboote und diese waren in ihren Davis vereist: In jener eisigen Januarnacht waren Außentemperaturen von bis zu minus 20 Grad; selbst das Ostsee-Salzwasser, schätzt Eggen, hatte "grad so" null Grad.
"Das war doch alles ein Wahnsinn", schlägt der 94-Jährige Karl Eggen beim Erzählen immer wieder die Hände vor’s Gesicht. Mit Grauen erinnert er sich auch an die letzten Kriegsmonate und -wochen 1945: "Das wurde immer schlimmer. Die jungen Leute hatten Angst, wollten nicht sterben". Aber wer desertierte und erwischt wurde, war verloren: "Da wurden ja mehr Menschen von den eigenen Leuten erschossen als von den Russen."
Die "Oranje Fontein" mit Funk-Obergefreiter Karl Eggen blieb in jener Nacht vom 30. auf 31. Januar auf der Sandbank liegen: "Am nächsten Tag zogen uns drei deutsche Schlepper ins frei Meer", so Eggen. Und nach der tödlichen Erfahrung der "Wilhelm Gustloff" ignorierte man See- und Neutralitätsbestimmungen: "Wir fuhren erst nach Norden Richtung schwedische Küste, dann erst nach Westen" – mit 1000 Menschen an Bord.
Geboren ist Karl Eggen in Mönchengladbach. Im Mai 1945 kam er erst durch seine Bruder, der bei Kriegsende in Waldkirch war, später durch seinen Beruf als Elektromonteur und schließlich dauerhaft nach Südbaden, wohnte erst in Oberwinden und jetzt seit Jahren in Elzach, wo auch Sohn uns Enkel sind.
"Ja, ich denke oft dran": Die Tage in der Danziger Bucht 1945 vergisst er nicht, war vor Jahren auch mal wieder dort, um alles nochmal anzusehen – auch die wohl rettende Sandbank bei der Halbinsel Hela. Auch jetzt, mit bald 95, ist "Charly" Eggen eine niederrheinische Frohnatur, auf jeden Fall ein heiterer Mensch – und ein dankbarer: "Ich hab’ von Kindesbeinen an Riesenglück gehabt, bei Unfällen und so. Bin immer mit ’nem blauen Auge davongekommen. Ich han’ en dickes Fell – sonst kommste ja nit durch".