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(c) Peter Kufner

Warum wir ständig glauben, wir werden getäuscht

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Wir sollten in Zeiten von gekauften Trollen, Social Bots und Deep-Fake-Videos das Fach der Irrtumswissenschaften auf die Lehrpläne setzen.

Es lohnt sich, einen Moment an den Turing-Test zu erinnern, dieses aus der Ur- und Frühgeschichte des Computerzeitalters stammende Experiment, das der Mathematiker Alan Turing erfunden hat. Turings Testfrage lautet: Sind Maschinen intelligent? Und das Setting, um diese Frage zu beantworten, sieht folgendermaßen aus: Da ist ein kommunizierendes Etwas, eine nicht näher bestimmte Entität, die hinter einem Vorhang hockt. Handelt es sich um einen Menschen oder um eine Maschine? Das ist unklar, denn man kann dieses Etwas nicht sehen, aber mit ihm sprechen. Wenn man selbst den Eindruck hat, es handle sich um einen Menschen, man es jedoch faktisch mit einer Maschine zu tun hat, dann muss man dieser Maschine Intelligenz zusprechen, so die Idee.

Der Turing-Test stammt aus dem Jahre 1950. Er ist alt, aber hochaktuell. Es handelt sich hier um das entscheidende Denkmodell, um zu verstehen, wie all die Berichte über gefälschte Nachrichten und systematische Desinformation, gekaufte Trolle und Social Bots in der vernetzten Gesellschaft wirken – nämlich als eine systematische Destabilisierung des Wahrheitsempfindens. Sie befördern eine Stimmung der gefühlten Manipulation, die man als Fake-Gefühl bezeichnen könnte. Und tatsächlich ist die Macht dieses Gefühls längst empirisch belegbar.

 

Täuschen lassen sich andere

84 Prozent der Österreicher sind der Auffassung, es sei für die Mehrheit der Menschen kaum möglich, im Netz echte News und gefälschte Nachrichten auseinanderzuhalten. Sie leben allerdings in dem Bewusstsein, es ließen sich vor allem die anderen täuschen. 49 Prozent meinen, man selbst sei immerhin in der Lage, Nonsens und Lügen auch zu erkennen. Mehr als die Hälfte der Deutschen meinen, dass sie verfälschten Informationen ausgesetzt werden, ein Drittel konstatiert: Man könne diese aber nur noch sehr schwer erkennen. In Frankreich leben 80 Prozent der Bürger in dem Glauben, dass man sie mit Falschmeldungen konfrontiert, in Großbritannien sind es 75 Prozent.

Besonders deutlich wird der allmähliche Stimmungswandel in Richtung des großen Verdachts am Beispiel von Deep-Fake-Videos. Das sind durch Computerprogramme manipulierte, mitunter täuschend echt wirkende Filmchen. Entstanden ist das Spiel mit der Realität in Netzforen wie Reddit. Hier präsentierte schon 2017 ein anonymer Nutzer Pornofilme, die – angeblich – Schauspielerinnen beim Sex zeigten. Andere griffen das Prinzip der Montage auf, montierten Köpfe auf Körper und ließen Prominente nach Belieben pöbeln und fluchen. Seitdem hat sich die Technik schrittweise verbessert. Inzwischen gibt es längst neuere, effektivere Fälschungsprogramme. Computerforscher prophezeien, dass damit die Zeit des authentischen Videobeweises zu Ende geht, weil man seinen Augen nicht mehr zu trauen vermag, die persönlich-private Authentizitätsprüfung nicht mehr möglich ist.

Aber erneut: Die mehr oder minder perfekte Einzelfälschung ist nicht das Entscheidende. Gesellschaftsprägender ist das Fake-Gefühl, jene von Ad-hoc-Spekulationen und fiebrigen Sofortverdächtigungen geprägte Atmosphäre, die längst reale Folgen hat.

 

Vorschnelle Realitätsskepsis

Nur ein Beispiel, dieses Mal aus einem Staat in Zentralafrika: Als der Präsident von Gabun, Ali Bongo, im Dezember 2018 – nach einem Schlaganfall und nachdem er monatelang nicht öffentlich aufgetreten war – eine Ansprache hielt, waren viele Menschen beim Anschauen des Facebook-Videos verdutzt. Warum schaut Ali Bongo so starr, wieso blinzelt er kaum? Gerüchte kursierten. Der Mann sei vielleicht schon tot, hieß es aus den Reihen seiner Gegner. Das ganze Video ein Deep-Fake, eine große Show zur Beruhigung der Bevölkerung. Die Folge des nicht weiter belegten Verdachts: ein Putschversuch des Militärs, der allerdings missglückte. (Ali Bongo ist bis heute an der Macht.) Aber hier zeigt sich wie unter einem Brennglas die reale Gefahr einer vorschnellen Realitätsskepsis, die eine Neufassung des sogenannten Thomas-Theorems nötig macht.

Was ist das Thomas-Theorem? Es handelt sich um ein berühmtes Postulat der Soziologie, eine Art Weltformel der Welterkenntnis, die die Verbindung von Situationsdefinition und Realitätsgefühl erfasst. Der Soziologe William I. Thomas hat diesen Zusammenhang in dem 1928 erschienenen Buch „The Child in America“ mit seiner Frau, Dorothy S. Thomas, zu dem berühmten Satz verdichtet: „Wenn die Menschen Situationen als real definieren, so sind auch ihre Folgen real.“ In Zeiten des großen Verdachts muss das Thomas-Theorem der digitalen Öffentlichkeit nun so lauten: „Wenn Menschen Kommunikation als potenziell manipuliert definieren, so hat dies Folgen in der wirklichen Welt.“ Das Fake-Gefühl, dies macht der Putschversuch gegen Ali Bongo deutlich, destabilisiert im Extremfall ganze Gesellschaften.

Wie kommt man da heraus? Wie unterscheidet man die Tugend einer tatsächlich aufklärerischen Skepsis vom Kult des Ad-hoc-Misstrauens, das die allgemeine Verunsicherung nur noch verstärkt? Wie schützt man sich selbst und andere einerseits gegen die Leichtgläubigkeit (die klassische Gefahr) und stärkt andererseits die Widerstandskräfte gegen die vorschnelle, auf dem unseriösen Soforturteil basierende Fälschungsdiagnose (das neue Problem)? Es gibt kein Schnell-schnell-Rezept, aber doch einen Weg. Und der heißt Medienbildung. Je mächtiger die Stimmung der gefühlten Manipulation, je umfassender und perfekter die Angriffe auf das Wahrheitsempfinden, desto wichtiger ist es, in Schulen und Universitäten, die Auseinandersetzung mit der Täuschungsanfälligkeit des Menschen auf die Lehrpläne zu setzen. Es braucht eine Querschnittsdisziplin, die man angewandte Irrtumswissenschaft nennen könnte.

 

Immunisierung des Verstands

Sie verdankt ihre Grundeinsichten den Experimenten zum Gruppen- und Bestätigungsdenken, der Analyse von Fälschungen und Fehleinschätzungen unter den aktuellen Medienbedingungen, dem historischen Studium von Vorurteilen. Eine solches Studium der Irrtumswissenschaft könnte vermitteln, wie Wissen zustande kommt und wie manipulationsanfällig unsere Wahrnehmung sein kann. „Das Wissen um dieses Wissen“, so der Philosoph Edgar Morin, „sollte die entscheidende Voraussetzung bilden, um unseren Geist auf die ständige Bedrohung durch Irrtum und Täuschung vorzubereiten, der er ausgesetzt ist. Es geht darum, den Geist im Entscheidungskampf um Klarheit zu bewaffnen.“

Ob das schon ausreicht? Natürlich nicht. Aber es wäre ein erster Schritt. Man wird deshalb nicht jede Fälschung  als solche erkennen und den modernen Turing-Test stets korrekt auflösen können, das wäre ein vermessener Anspruch. Aber es braucht eine Immunisierung des Verstands, die entschiedene Gegenwehr der Aufklärer, die alte und neue Wahrnehmungsgesetze in der Arena des Öffentlichen durchschaubar machen. Und es braucht die tatsächlich informierte, rational fundierte Skepsis, die Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.02.2020)