U-Ausschuss im Landtag
So versagten Jugend- und Familienhelfer im Fall Lügde
by Von Matthias KorfmannDüsseldorf. Zeugen bestätigen im Landtag schwere Fehler im Missbrauchs-Skandal von Lügde. Die Abgeordneten sind fassungslos.
Die erste Zeugenbefragung im Landtag zum Kindesmissbrauchs-Skandal von Lügde untermauert den Verdacht, dass Jugendämter in NRW und Niedersachsen sowie die Familienhilfe der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Höxter beim Umgang mit dem Haupttäter Andreas V. massiv versagt haben.
Ein Sozialpädagoge der AWO, der Andreas V. und sein siebenjähriges Pflegekind im Herbst 2018 mehrfach auf dem Campingplatz in Lügde aufgesucht hatte, erzählte, dass er zu Beginn seiner mehrmonatigen Familienhilfe für V. keine Hinweise auf die Gefahren hatte, die von diesem Mann ausgingen. Dabei war zu diesem Zeitpunkt durch den Familienhilfe-Verbund Sozialwerk Sauerland, der V. und sein Pflegekind zuvor betreut hatte, bekannt, dass von V. offenbar eine „massive Gefährdung“ ausging.
„Es gab kein Übergabe-Gespräch mit dem Sozialwerk“, sagte der Zeuge vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss „Lügde“. Im weiteren Verlauf seiner Befragung wurde dann klar, dass praktisch keine Zusammenarbeit zwischen Jugendämtern und Familienhilfe existierte und deren Interesse an V. und seinen ungewöhnlichen Lebensumständen auf dem Campingplatz wohl gering war. Die Landtagsabgeordneten zeigten sich bestürzt ob dieser Verkettung von Fehlern und der offenkundigen Gleichgültigkeit aller Beteiligten.
„Da stand kein Schild an der Tür: Ich habe Sex mit Kindern“
In zwei Stunden mühsamer Befragung wurde deutlich, dass Andreas V. im Jahr 2018 zwar hintereinander von zwei Einrichtungen der Familienhilfe betreut wurde, es aber keinen Meinungsaustausch zwischen diesen Experten und keine ordentliche Übergabe des Falls gab. Zwischen der Betreuung durch die beiden Familienhilfe-Einrichtungen lag außerdem eine mehrmonatige Pause. Auch das zuständige Jugendamt in Hameln reichte der AWO dem Zeugen zufolge keine Dokumente über V. weiter, es habe der AWO-Familienhilfe nicht einmal einen konkreten Arbeitsauftrag erteilt. Und der Sozialpädagoge der AWO hielt nach seinen Treffen mit V. nie schriftlich fest, welche Ziele bei der Betreuung erreicht wurden oder erreicht werden sollten. Abgerechnet wurden diese Besuche aber stets pünktlich.
Anzeichen für Verwahrlosung oder gar für sexuelle Gewalt gegen Kinder will der Zeuge bei seinen Besuchen im Wohnwagen des Tätern nicht bemerkt haben. „Da stand kein Schild an der Tür: Ich habe Sex mit Kindern“, sagte er. Und dass er bei seiner Arbeit „immer mit seltsamen Menschen zu tun“ habe. Der Chef des Sozialpädagogen sagte als zweiter Zeuge aus und gestand Fehler in der Zusammenarbeit zwischen Jugendbehörden und AWO ein. Auf die Frage eines Abgeordneten, ob hier sämtliche Kontrollmechanismen versagt hätten, antwortete er: „Ich glaube, da ist ganz viel schief gelaufen.“
Von der Gefährlichkeit von Andreas V. wusste der Mann von der AWO nichts
Schon der Auftakt der Zeugenbefragung zu den Missbrauchsfällen von Lügde lässt also Rückschlüsse auf schwere Behördenfehler zu. Die Mitglieder des Landtags-Untersuchungsausschusses, der die Hintergründe des jahrelangen sexuellen Missbrauchs von Kindern auf einem Campingplatz in Lügde beleuchten soll, reagierten am Freitag fassungslos auf das, was zwei Familien-Experten der Arbeiterwohlfahrt aus Höxter über ihre Kontakte zum Haupttäter Andreas V. aussagten.
Herr I., 54 Jahre, ist Sozialpädagoge der AWO. Einer, der sich selbst für besonders gut und erfahren hält, wie er den Abgeordneten im Ausschuss mehrfach erklärt. I. bekommt im Juni 2018 vom Jugendamt Hameln-Pyrmont den Auftrag, einem Mann, der mit einem siebenjährigen Pflegekind auf einem Campingplatz wohnt, Familienhilfe zu leisten: Andreas V., der später zu einer 13-jährigen Freiheitsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt wurde. Er ist der Haupttäter in einem der größten Missbrauchsskandale in Deutschland.
Einzige Info: Der macht ständig „Blondinenwitze“
Sozialpädagoge I. hat im Sommer 2018 keine Ahnung, mit wem er es hier zu tun hat. „Ich hatte keinen genauen Auftrag“, sagt er. Familienhilfe hat Andreas V. zuvor schon bekommen, vom Jugendhilfe-Träger Sozialwerk Sauerland. Das Sozialwerk hat den zuständigen Jugendbehörden sogar gemeldet, dass mit V. etwas nicht stimmt. Von einer „massiven chronischen Gefährdung mit der Tendenz zur akuten Gefährdung“ ist die Rede. Aber I., der AWO-Mann, weiß das nicht. Die Betreuung V.s durch das Sozialwerk endete vor Monaten. Das Jugendamt hätte der AWO eine „Fallakte“ über V. schicken müssen. Aber die wird nie abgeschickt. Und die AWO fragt auch nie danach, wie I.s Vorgesetzter als zweiter Zeuge vor dem Ausschuss einräumt.
Einen kleinen Hinweis über V. bekommt Sozialpädagoge I. aber doch per Telefon vom Jugendamt Hameln: V. soll abfällig über Mütter sprechen und „Blondinenwitze“ machen. Das möchte I. ändern. Etwa alle zwei Wochen besucht I. den Mann auf dem Campingplatz und das kleine Mädchen, insgesamt neun Mal. V. hat gar kein Interesse an Familienhilfe, also geschieht auch nicht viel. Mit dem kleinen Mädchen spricht der Mann von der AWO nicht allein. Er arbeite „überwiegend mit Eltern“, sagt er. Die seien ja das Problem. I. hat den Eindruck, dass zwischen dem Camper und seinem Pflegekind „ein Vertrauensverhältnis“ besteht. Anhaltspunkte für Gewalt sieht I. nicht: „Da stand kein Schild an der Tür: Ich habe Sex mit Kindern“. Camper V. und das Kind sind für ihn „ein Fall von vielen“, er habe es ständig mit seltsamen Menschen zu tun. Dass da ein alleinstehender 53-jähriger Mann mit einem kleinen Mädchen auf einem Campingplatz wohnt, erscheint der AWO zwar komisch, ist für sie aber kein Grund, misstrauisch zu werden. „Da muss ein Kind nicht leben, aber das war weit entfernt von Kindeswohlgefährdung“, sagt I.
Keine Dokumentation, keine Notizen, nur abgerechnet wird pünktlich
Was immer I. im Rahmen seiner Familienhilfe mit dem Camper bespricht – es wird nicht notiert. Keine Dokumentation, keine Mappe, keine Notizen, drei Monate lang nicht. Das sei „vielleicht etwas ungewöhnlich“, räumt der Vorgesetzte von I. ein. Es gebe bei ihm aber „keinen Standard für Dokumentationspflichten“. Nicht einmal nach dem plötzlichen Ende der Familienhilfe, als V. verhaftet worden war, habe das Jugendamt Hameln nach den Erfahrungen der AWO mit V. gefragt, erklärt I.s Chef. Das einzige, was offenbar perfekt zwischen Jugendbehörden und AWO funktionierte, war die Abrechnung: I. meldete pünktlich, dass er bei V. auf dem Campingplatz war. Dafür zahlte das Amt Geld. Informationsaustausch über V.? Fehlanzeige.
„Mir war Andreas V. von Anfang an suspekt“, erzählte der dritte Zeuge vor dem U-Ausschuss, ein 57-jähriger Frührentner und Vater von fünf Kindern. Er hatte V. 2016 bei einer Grillparty kennengelernt, auf der dieser sich an seine Töchter herangemacht und obszöne Sprüche über kleine Mädchen geäußert habe. Für diesen Zeugen war von Beginn an klar, dass V. pädophil sein müsse. Er meldete dies dem Jugendamt Hameln, der Polizei, dem Kinderschutzbund. Aber die Behörden reagierten nicht. Das Jugendamt habe ihn sogar gewarnt: Er riskiere eine Anzeige wegen Verleumdung.