Gastbeitrag von Daniel Stelter: Von wegen Desaster: Der Brexit kann für die Briten zum Erfolgsmodell werden
by FOCUS OnlineDer Brexit kommt. Aus der Unsicherheit der vergangenen dreieinhalb Jahre ist Gewissheit geworden. Im Sinne des Wahlslogans von Boris Johnson heißt es nun für die deutsche Wirtschaft „Get brexit done“. Auf welche Veränderungen sich Deutschland einstellen sollte, erläutert der Ökonom Dr. Daniel Stelter.
Zunächst einmal vorangestellt: Ich bin kein Freund des Brexits. Ich halte den Brexit für sehr bedauerlich – vor allem aus deutscher Sicht. Dennoch ist die wichtigste Erkenntnis zu akzeptieren, nämlich dass der Brexit für Deutschland große Bedeutung hat und die Briten langfristig wohl nicht ins Desaster führt. Denn bei allen Bedenken gibt es auch viele Anzeichen, dass aus dem Brexit ein Erfolgsmodell für Großbritannien werden kann.
Über Daniel Stelter
Dr. Daniel Stelter (Twitter: @thinkBTO) ist Gründer des auf Strategie und Makroökonomie spezialisierten Diskussionsforums "Beyond the Obvious" und Unternehmensberater. Zuvor war Stelter von 1990 bis 2013 bei der Boston Consulting Group (BCG), zuletzt als Senior Partner, Managing Director und Mitglied des BCG Executive Committee. Sein aktuelles Buch lautet "Das Märchen vom reichen Land - Wie die Politik uns ruiniert".
Der Superstaat in Brüssel wird nicht nur auf der britischen Insel als wenig demokratisch empfunden. Mit dem Brexit kann sich London regulatorisch absetzen. Die wirtschaftlichen Aussichten sind nicht so schlecht: Großbritanniens Wirtschaft ist in den letzten Jahren schneller gewachsen als beispielsweise die Deutschlands. Großbritannien profitiert von der Tatsache, dass es die Heimat der Weltsprache und damit attraktiv für qualifizierte Immigranten ist. Zudem besitzt Großbritannien ganz hervorragende Universitäten und herausragende Schulen, vor allem im privaten Bereich. London hat eine sehr lebhafte Start-up-Szene. In Verbindung mit einfachen Regeln für die Firmengründung, weniger Bürokratie und wettbewerbsfähigen Steuersätzen kann der Brexit zum Befreiungsschlag werden. Sicher nicht kurzfristig, langfristig aber schon.
Deutschland hat viel zu verlieren
Vor diesem Hintergrund haben die Länder der Europäischen Union, allen voran Deutschland, viel zu verlieren. Das gilt insbesondere dann, wenn es nicht gelingt, rechtzeitig einen Vertrag über die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien zu unterzeichnen. Boris Johnson hat klare Vorstellungen, bis wann dieser Freihandelsvertrag unter Dach und Fach sein soll, nämlich bereits Ende 2020. Seine Verhandlungsposition ist stärker, als die meisten Bürger auf dem Festland glauben. Ich bin überzeugt, dass es daher einen Vertrag zwischen der EU und UK geben muss.
Großbritannien ist ein großer Absatzmarkt und wenn dieser Absatzmarkt wegfällt, trifft das die EU sehr stark und wieder in besonderem Maße auch Deutschland. Wir Deutschen allein exportieren Waren im Wert von 85 Milliarden Euro ins Vereinigte Königreich. Einen großen Anteil daran hat die deutsche Automobilindustrie, die nach dem Dieselskandal und verschlafener Elektromobilität um ihre Vormacht hart kämpfen muss. Für die deutschen Autobauer wären britische Zölle also ein weiteres Fiasko. Immerhin ist Großbritannien für sie der zweitgrößte Exportmarkt der Welt. Doch nicht nur Deutschland würde ohne Vertrag Schaden nehmen. Die Wirtschaftskraft Großbritanniens ist genauso groß wie die der 20 kleinsten EU-Länder. Auf diesen Partner kann kaum ein Land verzichten, viel zu elementar sind Fragen der Fischereirechte, des Handels und des Austauschs von Dienstleistungen.
Für Deutschland ist es Zeit, Farbe zu bekennen. Innerhalb der EU hat Deutschland sich in den letzten Jahrzehnten nicht selten hinter Großbritannien versteckt, in der Erwartung, dass die Briten unangenehme Entscheidungen stoppen werden. Jetzt muss Deutschland entgegen seiner Tradition deutlich und klar für eigene Interessen eintreten. Der Vertrag von Lissabon legt Quoren fest, sodass weder die Nordländer noch die Südländer eine Mehrheit haben. Mit dem Austritt Großbritanniens wird es möglich, dass Frankreich, Italien, Spanien und Portugal sich gegen die Niederlande, Deutschland und Schweden durchsetzen können. Bei den anstehenden EU-Haushaltsverhandlungen werden wir die neuen Machtverhältnisse bereits erleben.
Boris Johnson könnte schnell mit einem Hard Brexit drohen
Das Austrittsabkommen für den Inselstaat sieht zunächst eine Übergangsphase von einem Jahr vor, kann aber noch einmal vom 31.12.2020 auf den 31.12.2022 verlängert werden. Dies dürfte Boris Johnson nicht wollen. Er wird eher mit einem Hard Brexit als Szenario drohen, um in den Verhandlungen Zugeständnisse zu erreichen. Die kurze Frist ist vollgepackt mit wichtigen Punkten, denn spätestens bis zum Ablauf der Übergangsphase gilt es, sich auf ein Handelsabkommen zu einigen, die langfristigen Beziehungen zu regeln und Zölle nach Möglichkeit zu vermeiden.
Für Europa geht es um viel: Nach einer Analyse des Instituts für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel könnte das Vereinigte Königreich ohne ein Freihandelsabkommen auf Warenimporte aus der EU signifikante Zölle erheben. Nach jüngsten Berechnungen lägen diese für 2018 bei 49 Milliarden Euro. Dazu gäbe es dann keine gesicherten Rahmenbedingungen für Dienstleistungen. Insbesondere Finanzdienstleistungen könnten nicht mehr gegenseitig angeboten werden. Andererseits würde Brüssel im Gegenzug durch die Versteuerung der britischen Importe nur 6,7 Mrd. Euro erhalten. Eine solche Situation hätte einen eindeutigen Gewinner und das wäre nicht die Europäische Union.
Die EU verfolgt knallhart ihre Interessen
Die EU ist knallhart bei ihren Interessen, wie man den Äußerungen von Frau von der Leyen kürzlich entnehmen konnte. In London sagte sie bei einem Vortrag an der London Stock Exchange: „Aber die Wahrheit ist, dass unsere Partnerschaft nicht mehr dieselbe sein kann und wird wie zuvor. Und sie kann und wird nicht so eng sein wie früher – denn jede Entscheidung hat Konsequenzen. Mit jeder Entscheidung kommt ein Kompromiss. Ohne die Freizügigkeit von Menschen kann es keinen freien Verkehr von Kapital, Waren und Dienstleistungen geben. Ohne gleiche Wettbewerbsbedingungen in den Bereichen Umwelt, Arbeit, Steuern und staatliche Beihilfen können Sie keinen qualitativ hochwertigen Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt haben. Je mehr Unterschiede es gibt, desto weiter muss die Partnerschaft entfernt sein. Und ohne eine Verlängerung der Übergangszeit über das Jahr 2020 hinaus können Sie nicht erwarten, dass Sie sich auf jeden einzelnen Aspekt unserer neuen Partnerschaft einigen können. Wir werden Prioritäten setzen müssen. Die Ziele der Europäischen Union bei den Verhandlungen sind klar. Wir werden uns für Lösungen einsetzen, die die Integrität der EU, ihres Binnenmarktes und ihrer Zollunion wahren. Hier kann es keine Kompromisse geben."
Der französische EU-Verhandlungsführer Michel Barnier sagte gleich zu Jahresbeginn: “Niemand, niemand sollte an der Entschlossenheit der Kommission und an meiner Entschlossenheit zweifeln, weiterhin die Interessen der Bürger und Unternehmen der EU27 zu verteidigen und die Integrität des Binnenmarktes zu verteidigen. (...)".
Aus Sicht von Großbritannien kann es kein Interesse daran geben, alle Regeln der EU zu akzeptieren, wie es sich die Kommissionspräsidentin vorstellt, denn dann hätte man in der EU bleiben können. Für die Briten, allen voran für Boris Johnson, liegt der Reiz doch gerade darin, sich positiv zu unterscheiden: andere und weniger Regulierung, Autonomie bei der Zuwanderung, günstigere Steuern etc. Boris Johnson wird also die erfolgreiche Strategie der letzten Monate fortsetzen. Er stärkt seine Verhandlungsposition und hat nun eine breite Mehrheit im Parlament. Seine Drohung mit einem harten Brexit ist deshalb realistisch.
Dennoch: Wir sollten den Briten dankbar sein, dass sie uns gewarnt haben. Es ist Zeit für Reformen. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass die EU so weitermacht wie bisher. Großbritannien zeigt auf, dass es Alternativen gibt. Schalten wir von der Schockstarre in den Handlungsmodus um. Wir werden ein hoch-volatiles Jahr erleben: mit Achterbahnfahrt an Börsen und Devisenmärkten, je nachdem welche Nachrichten gerade aus den Verhandlungsräumen kommen. Am Ende wird es einen Deal geben. Davon bin ich überzeugt und sei es einen, in dem bestimmte Dinge im Nachhinein konkretisiert werden.