Familientherapeut Jesper Juul: Viele machen es falsch: Eltern müssen Kinder führen - doch anders als sie denken
by FOCUS OnlineSelbstbestimmte Kinder wissen oft schon früh, was sie wollen. Das ist für Eltern häufig anstrengend. Sie sind überfordert und fragen sich: Wie viel Führung braucht mein Kind? Und welche? Familientherapeut Jesper Juul gibt klare Antworten.
Meiner Meinung nach ist eine Familie eine Gemeinschaft, in der alle Mitglieder sagen können, was sie wollen, und am Ende entscheiden die Erwachsenen, was möglich ist und was nicht. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch etwas Allgemeines über die Führung in Familien sagen: Kinder wollen und brauchen Erwachsene, die die Führung übernehmen.
Das zeigt mir meine Erfahrung mit Familien unterschiedlichster Art. Dort, wo es keine ausreichende Führung gibt, ist es um die Familie im Allgemeinen und um die Entwicklung der Kinder im Besonderen schlecht bestellt. Was vermutlich daran liegt, dass Kinder zwar ihre Gelüste und Wünsche kennen, sich ihrer grundlegenden Bedürfnisse jedoch nicht bewusst sind. Um diese Kompetenz zu entwickeln, brauchen sie die Führung von Erwachsenen.
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Erziehung und Führung sind zwei unterschiedliche Dinge
Als Eltern müssen wir uns vergegenwärtigen, dass Erziehung und Führung zwei unterschiedliche Dinge sind, obwohl sie oft in einen Topf geworfen werden. Wie jedes Boot seinen Kapitän braucht, braucht auch die Familie jemanden, der navigiert, damit sie keinen Schiffbruch erleidet. Ich vergleiche Eltern auch gern mit Leuchttürmen, die klare Signale aussenden, damit sich die Kinder daran orientieren können.
Wenn Erwachsene nicht in der Lage sind, konstruktiv zu führen, zeigt sich das meist in einer Reihe von Alltagskonflikten, die sich an Themen wie dem Aufstehen und Zubettgehen oder den Tischmanieren entzünden.
Dies ist ein Buchauszug aus „Dein selbstbestimmtes Kind - Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben“, dem letzten Buch des renommierten Familientherapeuten Jesper Juul, der am 25. Juli 2019 verstarb.
Subjekt-Subjekt-Beziehungen statt Subjekt-Objekt-Beziehung
Dass so viele Eltern und Kinder damit zu kämpfen haben, ist für mich ein klares Zeichen mangelnder Führung. Es beginnt damit, dass Kinder zuweilen wie Gegenstände behandelt werden, die zu funktionieren haben. Dass sie sich als Objekte in einer Subjekt-Objekt-Beziehung fühlen.
Mittlerweile wissen wir sehr genau, dass Subjekt-Subjekt-Beziehungen für alle Beteiligten konstruktiver sind und fruchtbare Beziehungen in Form von Gleichwürdigkeit schaffen.
Titel: „Dein selbstbestimmtes Kind - Unterstützung für Eltern, deren Kinder früh nach Autonomie streben“
Autor: Jesper Juul, Verlag: Kösel Verlag, Preis: 20 Euro
Wie Führung als Eltern gelingt
Meiner Meinung nach sollte die von den Erwachsenen ausgeübte Führung fürsorglich, dialogbasiert, empathisch, flexibel und proaktiv sein.
- Mit proaktiv meine ich, dass Erwachsene in der Lage sein sollten, in Übereinstimmung mit ihren eigenen Werten und Zielen zu handeln, statt nur auf das Verhalten ihres Kindes zu reagieren.
- Flexibel bin ich, wenn ich Veränderungen bei mir und meinem Kind wahrnehme, anstatt ständig „konsequent“ sein zu müssen.
- Empathisch bin ich, wenn ich einen anderen Menschen bewusst wahrnehme und mich auf seine Individualität einstelle.
- Fürsorglich und im Dialog bin ich, wenn ich die Bedürfnisse, Ideen und Gefühle des Kindes ernst nehmen und berücksichtigen kann, auch wenn sie meinen eigenen zuwiderlaufen.
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Eine neue Form der Führung
Gleichwürdige Führung in der Familie bedeutet, dass die Erwachsenen das Bedürfnis des Einzelnen – ganz gleich, ob groß oder klein – mit dem der Gemeinschaft ins Gleichgewicht bringen.
Die traditionelle Idee von Führung gründet auf der rollenbasierten Autorität: Ich bin der Vater oder dein Lehrer, deshalb habe ich das Recht, dir zu sagen, was du zu tun hast.
Die neue Form der Führung beruht auf persönlicher Autorität, und diese erfordert Selbstgefühl, Selbsterkenntnis, Selbstachtung, Selbstvertrauen sowie die Fähigkeit und Bereitschaft, die eigenen Werte und Grenzen zu wahren und dies auch zu kommunizieren.
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