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Charles Michel (li.), Präsident des Europäischen Rates, der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, äußern sich in Brüssel zum Abschied der Briten aus der EU.
(Foto: John Thys/AFP)

Zur Gemeinsamkeit entschlossen

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Genau zwölf Stunden und 51 Minuten vor dem historischen Moment, dass zum ersten Mal ein Mitglied die Europäische Union verlässt und der Brexit Realität wird, ist es Zeit für ein Zeichen der Einigkeit von ganz oben an die übrigen EU-Staaten. Die Präsidenten der drei EU-Institutionen betreten die Bühne im Parlamentarium, dem Besucherzentrum des Europäischen Parlaments in Brüssel.

Für EU-Ratspräsident Charles Michel, den Vertreter der bald nur noch 27 Mitgliedstaaten, heißt die Lehre aus dem Brexit: Die EU muss "noch stärker und ehrgeiziger" auftreten. Ursula von der Leyen bietet London die "engstmögliche Partnerschaft" an und sagt, dass die EU ihre Stärke nicht in "splendid isolation" sehe. Die Briten blieben Nachbarn und Freunde, und "gute Freunde können auch hart und fair verhandeln", sagt die Chefin der EU-Kommission.

Es folgt die klare Botschaft an Premierminister Boris Johnson, dass Brüssel keine Geschenke zu verteilen hat: "Nur wer die Regeln des Binnenmarktes anerkennt, kann auch den vollen Nutzen des gemeinsamen Marktes ziehen."

Dem Auftritt war eine Klausursitzung vorausgegangen: Im Haus von Jean Monnet in Bazoches hatten die drei Präsidenten am Donnerstag über strategische Fragen und die künftigen Prioritäten beraten. Von der Leyen zitiert im Parlamentarium einen Ausspruch dieses Wegbereiters der europäischen Einigkeit: "Ich bin kein Optimist, kein Pessimist, sondern entschlossen." Und mit Entschlossenheit und Selbstbewusstsein, so der Wunsch, sollen die EU-27 in die Ende Februar beginnenden Verhandlungen mit Großbritannien gehen - und auf der Weltbühne präsentieren.

Die EU als "Lebensversicherung"

Immer wieder wiederholen Michel, von der Leyen und Sassoli jene Botschaften, die schon seit Wochen verbreitet und am Morgen in Gastbeiträgen beschrieben werden: Herausforderungen wie der Kampf gegen die Erderwärmung, die Folgen der Digitalisierung oder Steuerung von Migration könne kein Land allein meistern, die EU sei hier eine "Lebensversicherung" und man wolle eng mit den Briten kooperieren.

Diese Pressekonferenz geht über Floskeln wie "Deshalb ist der Tag morgen kein Ende, sondern er ist ein Anfang" hinaus, sie wird der besonderen Emotionalität gerecht, die momentan in Brüssel herrscht. Denn zumindest im Europaviertel schwanken viele zwischen tiefer Traurigkeit, Wut und stellen selbstkritische Fragen. Es ist David Sassoli, der im Namen das EU-Parlaments vehement dafür wirbt, die geplante "Konferenz für die Zukunft Europas" dafür zu nutzen, offen mit den Bürgern zu diskutieren. Dieses "Abenteuer" müsse die nächsten Jahre die Agenda bestimmen, um das Vertrauen aufzubauen.

Der Sozialdemokrat aus Italien wirbt mit Leidenschaft für mehr Geschlossenheit, wenn er einem Reporter entgegnet: "Wir sollten alle nach einer Antwort auf folgende Frage suchen: Warum versuchen alle uns zu teilen und zu spalten?" Dies sei für ihn die "Frage der Fragen", denn neben externen Akteuren - man denke an China, Trumps USA oder Russland - gebe es auch im Inneren der EU Bestrebungen, die EU zu schwächen.

Dass die EU der größte Wirtschaftsraum der Welt sei, hatten Michel und von der Leyen auch erwähnt, aber Sassoli streicht die Vorteile besser heraus. Die Briten mögen der EU-27 vorwerfen, "besessen" von Regeln zu sein, doch dies sei eben das Besondere. "Mit Regeln lebt man besser. Ohne Regeln sind die Schwächsten nicht geschützt und die Starken werden sich als Herren aufspielen", ruft Sassoli. Diese Ordnung müsse verteidigt werden - aus Eigeninteresse für Europa und auch als positiver Beitrag für die globalisierte Welt. Dafür gibt es Szenenapplaus, was selten passiert in Brüssel.

In der mittäglichen Pressekonferenz der EU-Kommission ist die Rede von "einem Tag, an den wir uns definitiv erinnern werden". Sprecherin Dana Spinant versichert den britischen Journalisten, dass man von Montag an keine Unterschiede machen werde: Alle Reporter mit entsprechender Akkreditierung würden gleich behandelt werden. Für die oberste EU-Behörden arbeiten weiterhin 700 Briten, denen man vertraue: Es seien keine besonderen Sicherheitsprüfungen geplant und ihnen würden auch keine Informationen vorenthalten, sagt Spinant.

Dafür, dass der EU gewöhnlich gern Bürokratie vorgeworfen wird, ist auch die Emotionalität, die in dieser Woche vielerorts zu erleben ist, ungewöhnlich. Auf die vielen Tränen und das gemeinsame Singen der "Auld Lang Syne"-Hymne am Mittwoch, als das Europaparlament dem Austrittsabkommen zustimmte, folgten kurze Nächte für viele Abgeordnete und deren Mitarbeiter.

Am Donnerstagnachmittag wurde ein Baum für die europäisch-britische Freundschaft gepflanzt. Und während die Stadt Brüssel die Fassaden der Häuser am ehrwürdigen Grande Place in die britischen Farben weiß-blau-rot hüllte, feierten hinter dem Europa-Parlament knapp 200 junge Leute unter dem Motto "Brexit ist sch****, aber lasst uns trotzdem Party machen". Eingeladen hatte der britische Ex-Abgeordnete Magid Magid von den Grünen; andere scheidende Parlamentarier tanzen wenige Meter entfernt zu walisischen Volkstänzen in einer Kneipe.

Am Tag des Abschieds selbst findet in Brüssel keine große Feier statt, man trifft sich eher in Bars, Kneipen oder eben Pubs. Und spätestens um Mitternacht wird aus allen drei EU-Institutionen die britische Flagge, verschwunden sein. Ein "Union Jack"-Exemplar, so viel ist sicher, kommt ins Haus der Europäischen Geschichte. Denn der Austritt des Vereinigten Königreichs ist wahrlich ein historisches Ereignis. Und David Sassoli, Charles Michel und Ursula von der Leyen wollen alles tun, dass sich keine Nachahmer finden.