"Mallorca soll kein zweites Thailand werden"
by Süddeutsche ZeitungWeihnachtsnacht in Palma. Ein 13-jähriges Mädchen, das aus einem Heim ausgerissen ist, wird von einer Gruppe junger Männer vergewaltigt. Sieben Jugendliche und ein Erwachsener wurden bislang festgenommen. Das Mädchen sagt bei der Polizei aus, es habe vor der Vergewaltigung mehrere Angebote erhalten, sich zu prostituieren. Die Staatsanwaltschaft beginnt zu ermitteln, mittlerweile sind 16 andere Fälle bekannt, die sich seit 2017 ereignet haben sollen. Unter Druck steht nun die Sozialbehörde der Insel, Imas. Ihr werfen ehemalige Opfer jahrzehntelange Tatenlosigkeit vor.
Eine von ihnen ist Joana Molinas. Aufgewachsen ist die 41-Jährige in einem Ferienort an der Nordküste Mallorcas. Mit neun wurde sie zum ersten Mal vergewaltigt, mit 13 haben sie die Eltern, beide Taxifahrer, in eine Jugendeinrichtung gesteckt, erzählt sie bei einem Treffen. "Ich bin ständig von zu Hause abgehauen", erzählt sie, "sie wussten nicht mehr weiter." Doch im Heim wurde es schlimmer. Betreuer vergriffen sich an ihr, sie riss wieder aus, lebte oft tagelang auf der Straße. Sie nahm Kokain, trank Alkohol, prostituierte sich gemeinsam mit ihrer Zimmergenossin. "Wenn wir zurückkamen, waren wir total zu. Das hat im Heim aber niemanden gekümmert."
Joana Molinas Erlebnisse sind 25, 30 Jahre her. Doch sie könnten auch heute passieren. Das zeigt der Vorfall aus der Weihnachtsnacht. Molinas hat beschlossen, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, weil sie anderen Opfern helfen will. Prostitution von Heimkindern sei auf der Insel seit Jahrzehnten ein Problem, "vor allem in den Touristenzentren. Mallorca soll kein zweites Thailand werden". Gerade hat sie die Vereinigung Accesi gegründet, mit der sie Opfern vermitteln will, dass es einen Ausweg gibt. Ihr Handy ist Tag und Nacht angeschaltet. "Viele Mädchen haben niemanden, den sie anrufen können", sagt sie, "und ich spreche aus eigener Erfahrung."
359 Minderjährige leben auf Mallorca in einer von 30 Jugendeinrichtungen. Durchschnittlich 20 Mal im Monat melden Betreuer einen Ausreißer oder eine Ausreißerin. Der Behördenleiter Javier de Juan bestätigte bei einer Anhörung im Parlament der Inselregierung, dass Vergewaltigungen von betreuten Minderjährigen keine tragischen Einzelfälle seien, und kündigte an, eine Untersuchungskommission einzuberufen. Er wusste, dass sich seit 2017 die Fälle häufen. Fünf Angestellte sind jetzt wegen unangemessenen sexuellen Verhaltens entlassen worden. Die Behörde will ihre Mitarbeiter besser schulen, die Öffentlichkeit aufklären und enger mit der Polizei zusammenarbeiten.
Ehemalige als Kupplerinnen
Das Thema hat mittlerweile auch Madrid erreicht. Spaniens Innenminister Fernando Grande-Marlaska kündigte gründliche Ermittlungen an. Er will unter anderem in Erfahrung bringen, ob auch anderswo in Spanien minderjährige Heimbewohner systematisch missbraucht werden oder ob das Problem vor allem in Gegenden mit starkem Tourismus besteht. Für Joana Molinas liegt der Zusammenhang nahe: "Viele Eltern arbeiten hier im Sommer zu viel und vernachlässigen ihre Kinder", sagt sie, "und anstatt ihnen zu helfen, kommen die Kinder ins Heim."
Dort geht es ihnen dann oft nicht besser. Ein Erzieher, der nicht genannt werden möchte, sprach jüngst in einem Interview mit der Regionalzeitung Diario de Mallorca von "absolutem Chaos". "Viele Ausreißer tauchen erst nach Tagen wieder auf, mit neuen Schuhen oder Geld in der Tasche." Als Kupplerinnen wirkten ältere oder ehemalige Heimbewohnerinnen. Die Tatsachen seien in der Behörde bekannt, so der Erzieher, er selbst habe unzählige Berichte geschrieben, auf die aber nie jemand reagiert habe. "Anfangs dachte ich, es gibt verdeckte Ermittlungen und deswegen sagt keiner was", so der Erzieher zur Zeitung, "bis ich irgendwann gemerkt habe, dass einfach gar nichts passiert."