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Macron hat indes auch ein persönliches Motiv, den Brexit herbeizuwünschen.© afp
Frankreich

Krokodilstränen in Paris

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Während viele Großbritannien hinterhertrauern, verhehlt man in Frankreich die Erleichterung über den Brexit nicht.

Offiziell herrscht auch in Paris Bedauern über den Austritt der Briten aus der EU. Emmanuel Macron beteuert gerne, er habe sich den Brexit „natürlich nicht gewünscht“. Heiße Tränen vergießt er allerdings nicht. Spricht man mit anderen Franzosen – und zwar egal, ob rechts oder links, ob in Regierungskreisen oder unter einfachen Bürgern –, hört man stets, der Rückzug der Briten sei „kein Verlust“. Schließlich hätten sie sich mit der europäischen Idee nie angefreundet und der Einheit wie auch der Kohärenz der Union nur geschadet.

Die Zeitung „Libération“ titelte gestern in Englisch: „It’s time“ – es ist Zeit, dass der Brexit endlich umgesetzt wird. Auch Macron hatte im Oktober bei dem entscheidenden EU-Gipfel in Brüssel darauf gedrängt, dass die Briten so schnell wie möglich austreten sollten; erst als er einsah, dass er mit dieser Haltung allein war, lenkte er auf den 31. Januar ein.

Seine Diplomaten mussten sich dabei von vieler – auch deutscher – Seite den Vorwurf anhören, der französische Präsident handle wie seinerzeit Charles de Gaulle. Der hatte in den 60er Jahren wiederholt sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft eingelegt. Darin äußerte sich das alte, bis auf den Hundertjährigen Krieg zurückgehende Misstrauen zwischen zwei Nationen, die zwar einiges gemeinsam haben, in Sachen EU aber fundamental andere Vorstellungen verfolgen.

Furcht vor der Achse

Eine Machtverschiebungzugunsten von Deutschland und Frankreich befürchtet der belgische Finanzminister Alexander De Croo als Folge des Brexit. „Man spürt, dass diese deutsch-französische Achse wieder sehr viel wichtiger wird. Und ehrlich gesagt ist das für Belgien keine gute Sache“, sagte der liberale Vizepremier am Freitag im belgischen Sender LN24. Er habe die Briten wegen der Machtbalance immer gern am Tisch der EU-Staaten gehabt. Frankreich und Deutschland würden sich jetzt sagen, „sie können irgendwelchen Unsinn entscheiden und die anderen müssen folgen“, sagte er. (dpa)

Patrick Martin-Genier, Europaexperte an der Polituniversität „Sciences Po“, schrieb am Freitag in einem Beitrag, er sei froh über den Brexit: „Die Erleichterung ist umso größer, als das Vereinigte Königreich in 47 Jahren Mitgliedschaft nur immer das Ziel verfolgte, die Europäische Union zu schwächen und daraus eine Freihandelszone ohne politischen Willen zu machen.“

Die französische Regierung freut sich ihrerseits, dass einzelne Finanzhäuser Personal von der Themse an die Seine verlegen. Als die Bank of America Merrill Lynch im November 300 Angestellte aus England abzog, bemühte sich sogar Premierminister Edouard Philippe zur Einweihung der neuen Räume in bester Pariser Lager.

Dass Paris die Londoner City beerben könnte, bleibt indessen französisches Wunschdenken – und das nicht nur, weil auch Frankfurt ein Wörtchen mitreden will. Die Kreditinstitute der City richten derzeit in mehreren europäischen Städten von Dublin bis Madrid Ableger ein, um Zugang zum EU-Finanzmarkt zu behalten.

Macron hat indes auch ein persönliches Motiv, den Brexit herbeizuwünschen: Er glaubt, damit seinen undeklarierten Führungsanspruch in Europa besser umsetzen zu können. Mit neuer Energie plädiert er nun für einen integrierten Wirtschaftsraum inklusive Steuerharmonisierung. Dabei hatte ihm Bundesfinanzminister Olaf Scholz im vergangenen Jahr gerade in Sachen Euro-Budget Grenzen gesteckt; und auch kleinere Mitgliedsstaaten leisten Widerstand gegen die französischen Pläne.

Langsam mehren sich in Paris aber auch Sorgen über den Verlust der britischen EU-Partner. Der französische Europaabgeordnete Alexandre Holroyd, Mitglied der Macron-Partei LRM, warnte am Freitag vor einer „Abschwächung der Wirtschaftsbeziehungen“ über den Ärmelkanal, was auch das französische Wachstum beeinträchtigen könne. Seine Sitznachbarin Véronique Trillet-Lenoir übt sogar Selbstkritik, indem sie meinte, alle Beteiligten müssten sich in Bezug auf den Brexit „Fragen stellen, damit so etwas nie mehr vorkommt“.