Noch höhere Kosten und ständig Kündigungsangst: Wien als Mieter-Paradies? Studie zeigt: Das Gegenteil ist der Fall
by FOCUS OnlineWien gilt vielen deutschen Mietern als Ideal, wenn es um Alternativen zu den angespannten Mietmärkten Hierzulande geht. Eine Untersuchung zeigt jedoch: Als Vorbild für deutsche Städte taugt Wien nur bedingt. Tatsächlich ist die Situation für Mieter in Österreichs Hauptstadt häufig viel schlechter als hierzulande.
Das wichtigste Argument der Wien-Fans: Angeblich seien die Wohnkosten in Österreichs Hauptstadt viel niedriger als in deutschen Großstädten – weil der Staat Vermieter im Zaum halte und zugleich günstigen Wohnraum zur Verfügung stelle.
Jetzt rüttelt eine Untersuchung an diesem Bild. Als Vorlage für deutsche Städte taugt Wien ganz und gar nicht, stellt ein Expertenteam des Empirica-Instituts rund um Harald Simons von der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig fest. Im Gegenteil – gleich in mehreren Punkte schneidet Wien in der Untersuchung schlechter ab als deutsche Pendants.
Zunächst die wichtigsten Erkenntnisse:
- Nur in München sind die Kaltmieten noch höher als in Wien.
- Hinzu kommen deutlich höhere Nebenkosten und
- viel mehr Pflichten für Mieter, einschließlich nicht gerade günstiger Renovierungsarbeiten, sowie
- jede Menge Unsicherheiten, was das Mietverhältnis betrifft.
Womöglich haben sich die Wiener Mieter selbst in diese Situation gebracht, obwohl die Ausgangslage einst in der Tat günstig war – und einzig in dieser Hinsicht Vergleiche zur aktuellen Situation in Deutschland zulässt. Was daraus wurde, sollte den Befürwortern des Wiener Systems allerdings zu denken geben.
Denn, so die Studienautoren: Weil die Wiener selbst an das Märchen der niedrigen Mieten glauben, haben sie sich von den Mietern im Laufe der Zeit immer mehr Kostentreiber aufbürden lassen – um nur ja nicht ihre vermeintlichen Privilegien bei der Kaltmiete zu gefährden.
Experten unterscheiden vier unterschiedliche Märkte in Wien
Doch der Reihe nach – schließlich ist das Bild, das die Experten vom Wiener Mietmarkt zeichnen, sehr viel differenzierter als das Allermeiste, was dazu bislang gesagt und geschrieben wurde.
Die wichtigste Erkenntnis der Experten: „Die“ Wiener Wohnungspolitik gibt es gar nicht. Vielmehr sei der Wohnungsmarkt in Wien in mindestens vier unterschiedliche Bereiche getrennt, „wobei die rechtlichen Unterschiede als auch die Marktergebnisse zwischen den Teilmärkten sehr groß sind“, halten die Forscher fest.
Private Altbauten
Private Altbauwohnungen machen mit rund einem Drittel (rund 34 Prozent) den größten Teil des Wiener Mietwohnungsbestandes aus. Bei diesen Wohnungen wurde während des ersten Weltkriegs die Miethöhe begrenzt – übrigens nicht nur in Wien, sondern im ganzen Land. Was als Notmaßnahme begann, hat bis heute Bestand – wenngleich die Details (Höhe und Struktur der Begrenzung) regelmäßig angepasst werden. „Das Prinzip einer Mietdeckelung aber blieb bis heute erhalten“, betonen die Autoren.
Dabei dient ein sogenanntes Kostenmietprinzip zur Bestimmung der zulässigen „Richtwertmiete“, die letztlich jedes Bundesland selbst festlegen kann. Das bedeutet: Die Mieter sollen für die Kosten aufkommen, die sie beziehungsweise die Immobilien den Eigentümern verursachen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger. Tatsächlich zeichnet sich Wien durch eine niedrige Richtwertmiete aus (5,81 Euro).
Zuschläge können Kaltmiete leicht verdoppeln
Die Wirklichkeit weicht jedoch immens von diesem Bild ab. Denn die Miete wird durch diverse Ab‐ und Zuschläge etwa für Lage oder Ausstattung variiert. Diese zusätzlichen Kosten können insgesamt sogar höher sein als die Grundmiete, diese also mehr als verdoppeln.
Dies wird dadurch erleichtert, dass sich „das System der Ab‐ und Zuschläge in den letzten Jahrzehnten soweit verkompliziert hat, dass die zulässige Höhe der Miete für eine Wohnung heute schlicht unbekannt ist“, schlussfolgern die Forscher. Miet‐Gutachten für eine und dieselbe Wohnung würden häufig völlig unterschiedliche Ergebnisse zeitigen, sodass das Mietrechtssystem „praktisch keine Rolle“ mehr spiele, so die Forscher. In der Praxis würden Mieter fast immer draufzahlen.
Ständige Kündigungsangst
Diese Tendenz droht sich weiter zu verschärfen. Zwar können Mieter mit kostenlosen Gutachten durch städtische Stellen auf ihrem Recht bestehen. Doch das traue sich kaum jemand, weil eine weitere Wiener Eigenart dies verhindert: Privat vermietete Wohnungen werden gewöhnlicherweise für drei Jahre befristet vermietet und anschließend befristet verlängert.
Diese Einschränkung („sachgrundlose Befristung von Mietverträgen“) sorgt dafür, dass viele Mieter lieber stillhalten, als sich über zu hohe Mieten zu beschweren. „Die tatsächlich gezahlte durchschnittliche Bestandsmiete (bruttokalt) ist in Wiener Altbauten mit 9,20 Euro pro Quadratmeter etwas höher als in Hamburg (8,94 Euro), deutlich höher als in Berlin (7,52 Euro) aber niedriger als in München (etwa 10,40 Euro)“, rechnet Empirica vor.
Mieter zahlen für alles, was sie berühren können
Damit nicht genug: „Die gesetzliche Fiktion niedriger Mieten hat dazu geführt, dass die Mieter in Wien weitaus mehr Pflichten übernehmen als in Deutschland“, so die Forscher weiter. Der Wiener Mieter übernehme demnach „sämtliche Investitionen für alle Teile der Wohnung, die er berühren kann“. Zu diesen Aufgaben zählen unter anderem:
- Neufliesen der Bäder
- Austausch kaputter Fenstergriffe oder Glasscheiben
- Sämtliche Wartungsarbeiten an der Heiztherme, am Warmwasserboiler, an den Elektroinstallationen.
Der Vermieter muss sich damit in den meisten Altbauten nur um die Instandhaltung allgemeiner Teile des Gebäudes wie Mauern, Dach, Wände und Decken kümmern. Weitere Arbeiten braucht er nur bei ernsten Schäden oder erheblicher Gesundheitsgefährdung vornehmen – und selbst das nur dann, wenn er Heizung, Bäder oder Elektrik überhaupt eingebaut hat, „was häufig nicht der Fall ist“. Bei größeren Instandhaltungsinvestitionen könne zudem vorübergehend die Miete erhöht werden.
Betriebskosten viel höher als in Deutschland
Schließlich sind auch noch sämtliche Nebenkosten, etwa für die Wohnungsverwaltung, auf die Mieter umlegbar. Im Ergebnis bedeutet das: Die kalten Betriebskosten in Wien liegen mit 2,35 Euro pro Quadratmeter und Monat zwischen 0,75 Euro und 0,85 Euro mehr als deutlich über den Werten deutscher Metropolen.
Gemeindewohnungen
Der zweitgrößte Teil der Wiener Mietwohnungen entfällt auf die sogenannten Gemeindewohnungen (knapp 210.000 Einheiten, entspricht 31 Prozent aller Mietwohnungen), die das kommunale Wohnungsunternehmen „Wiener Wohnen“ anbietet. Insbesondere dieses Modell schwebt Befürwortern der Wiener Wohnpolitik vor, wenn sie diese als Vorbild für deutsche Städte bemühen.
Die Wohnungen der Wiener Wohnen sind nicht so alt wie die der ersten Gruppe. Der größte Teil (knapp 60 Prozent) stammt allerdings aus den 1950er bis 1970er Jahren, als die Wiener Wohnen hauptsächlich größere, dezentral gelegene Siedlungen baute. Anschließend errichtete das Unternehmen nur noch wenige Wohnhäuser, ehe 2004 der Neubau komplett eingestellt wurde.
Immerhin liegen die Mieten für diese Wohnungen allem Anschein nach insgesamt auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Genaue Zahlen sind allerdings nicht bekannt, da die Wiener Wohnen als städtischer Betrieb keinerlei Daten vorlegen muss. „Nicht einmal rudimentäre Rahmendaten wie die Höhe der Mieten werden veröffentlicht“, stellt Empirica fest. Nur auf Umwegen konnten die Forscher Datenmaterial für eine Analyse zusammentragen. Demnach ergibt sich ein zweigeteiltes Bild.
Bestandsmieten spottbillig - Neumieten teurer als bei uns
Die Bestandsmieten fielen 2018 mit rund 3,90 Euro pro Quadratmeter äußerst gering aus. „Damit dürfte die Wiener Wohnen nicht nur das größte Wohnungsunternehmen Europas sein, sondern sicherlich mit Abstand auch das Unternehmen mit den niedrigsten Nettokaltmieten“, betonen die Experten. Es sei erstaunlich, dass die Wiener Wohnen dies nicht öffentlich mitteilt.
Womöglich liegt es daran, dass sie damit falsche Erwartungen wecken würde. Denn neuen Mietern stellt die Stadt die Richtwertmiete in Rechnung. Einschließlich Betriebskosten und Umsatzsteuer ergibt das bei einer Standardwohnung eine Miete von rund 8,90 Euro. Das ist zwar für Wiener Verhältnisse relativ wenig – aber immer noch mehr als Mieter in vielen deutschen Städten zahlen müssen.
Selbst die Bestandsmieten seien bei Berücksichtigung der für Wien typischen hohen Nebenkosten und der Umsatzsteuer nur „im Rahmen vieler größerer Wohnungsunternehmen in Deutschland“, betonen die Experten.
Bei der Wiener Wohnen kommt davon allerdings vergleichsweise wenig an. Das ist deshalb besonders bitter, weil nur etwa ein Drittel ihrer Wohnungen zur aktuellen Richtwertmiete vermietet sind, der gesamte Rest hingegen zu Konditionen von 1994 oder noch älteren Mietsystemen.
Hoher Leerstand – Tendenz steigend
Die dadurch bedingten niedrigen Einnahmen der Wiener Wohnen führten allerdings dazu, dass das Unternehmen heute finanziell schlecht aufgestellt sei, so die Forscher. Bei vielen ihrer Häuser bestehe akuter Investitionsstau. „Die Folge davon ist, dass sich in den letzten Jahren die Sozialstruktur der Mieter dramatisch in Richtung sozial schwacher Mieter verschiebt“, warnen die Experten. „So dürften zwischen 2007 und 2016 rund 60 Prozent der Neumieter der letzten Jahre einen Migrationshintergrund aus Drittstaaten gehabt haben und der Anteil der Personen mit relativ niedrigem Bildungsniveau steigt.“
Nur noch wenige Gebäude der Wiener Wohnen würden heute in „sozial unauffälligen Baublöcken“ liegen. Das wiederum hat zur Folge, dass immer weniger Interessenten die freiwerdenden Wohnungen beziehen wollen: Schon jetzt ist der Leerstand hoch – Tendenz steigend. Und das, obwohl die Wartelisten prall gefüllt sind.
„Kann nicht empfohlen werden, dem Wiener Beispiel zu folgen“
Das Fazit der Experten ist deshalb so ernüchternd wie eindeutig: „Deutschen Städten kann nicht empfohlen werden, dem Wiener Beispiel zu folgen – ganz abgesehen von der Frage, woher die ganz erheblichen Mittel für den Aufbau des Wohnungsbestandes kommen sollen.“ Ein großer kommunaler Wohnungsbestand sei zwar per se nichts Schlechtes. Anhand der Wiener Wohnen würden aber die Schwierigkeiten deutlich, kommunale Wohnungsbestände nachhaltig wirtschaftlich zu führen.
Dies gelte insbesondere dann, „wenn der kommunale Wohnungsbestand als Eigenbetrieb direkt von der Stadt verwaltet wird und öffentlich keinerlei Rechenschaft ablegen muss“, betonen die Empirica-Forscher. Was sie dabei nicht aussprechen: Womöglich sorgte gerade diese Intransparenz dafür, dass das Wunschdenken in Bezug auf den Wiener Mietmarkt hierzulande umso besser gedeihen konnte.
Viel Platz auf wenig Raum: Wie wir in Zukunft wohnen werden
„Mieten“ abonnieren