Menschen mit Behinderung
Kompliment oder Diffamierung? Wie gut ist gut gemeint?
"Toll, wie positiv du mit deinem Schicksal umgehst. Deine Lebensfreude inspiriert mich!" Klingt nett, kann aber auf Menschen mit Behinderung diskriminierend wirken und hat sogar einen Namen: "Inspiration Porn". Was steckt dahinter?
"Inspiration Porn" – der falsche Umgang mit behinderten Menschen
Wenn man mit sichtbarer Behinderung unterwegs ist, bekommt man häufig so Komplimente wie "Toll, wie positiv du mit deinem Schicksal umgehst. Ich bewundere deinen Lebensmut." Gerne kombiniert mit "Ich könnte das so nicht." Wahlweise wird noch ein "Da darf ich mich über meine Probleme ja nicht mehr beschweren" ergänzt.
Ich bin Lisa, hr-Reporterin, und unterwegs auf zwei Unterschenkelprothesen in schickem schwarzem Karbon. Solche Aussagen gehören deshalb zu meinem Alltag. Sich in kurzer Hose zeigen, trotz Beinprothesen und sich so auch noch wohlfühlen, das animiert viele Menschen zu Kommentaren.
Sie sagen mir, wie toll sie das finden, dass ich mich nicht verstecke. Menschen im Rollstuhl bekommen gerne mal gesagt wie unglaublich toll es ist, dass sie sich trotzdem zum Beispiel in einen Club trauen. Social Media wirkt bei all dem noch wie ein Katalysator, das Thema wird unter #inspirationporn diskutiert. Ich habe mich mit Marvin und Tom getroffen, die beide eine Körperbehinderung haben, und habe sie nach ihrer Meinung gefragt.
Tom: "Beide Seiten sollen sich mal entspannen."
Über die Motive für vermeintliche Komplimente, Vorurteile und Unsicherheit habe ich auch mit Ulrich Wagner gesprochen. Er ist Professor für Psychologie an der Philipps-Universität in Marburg.
hessenschau.de: Wieso denken viele Menschen, sie müssten so was sagen?
Ulrich Wagner: Ich vermute, zuallererst ist es Unsicherheit, weil die wenigsten Menschen ohne Behinderung es gewohnt sind, mit Menschen mit Behinderung in Kontakt zu kommen und in Interaktion zu treten. Sie wissen nicht wie sie sich verhalten sollen. Und dann sagen sie irgendetwas, das ihnen gerade auffällt, nämlich dass eine Person mit Behinderung gerade etwas macht, was sie ihr nicht zugetraut hätten. Das hat nicht unbedingt eine böse Absicht.
Und dann gibt es natürlich eine zweite Form, die auf Vorurteilen gegenüber Behinderten basiert. Da müsste man sehr ernsthaft etwas an diesen Vorurteilen tun.
hessenschau.de: Woher kommen denn die Unsicherheiten?
Wagner: Diese Unsicherheit hat tatsächlich sehr viel damit zu tun, dass Minderheiten, wie der Name schon sagt, zahlenmäßig relativ gering vertreten sind. Und das hat zur Folge, dass man sich nicht so gut miteinander auskennt.
hessenschau.de: Und handfeste Vorurteile?
Wagner: Menschen mit Behinderung wurden schon im Mittelalter diskriminiert und massiv ausgeschlossen, oder ihnen wurden bestimmte Rollen zugewiesen wie etwa kleinwüchsigen Menschen bei Hof. Es gibt einen psychologischen Mechanismus der dazu führt, dass häufig Menschen - "die anderen" - abgewertet werden. Das kann Antisemitismus, aber auch die Abwertung von Menschen mit Behinderung sein.
hessenschau.de: Dieses Verhalten passiert ja in den meisten Fällen nicht mal bewusst. Woher kommt dieses Bedürfnis, sich abgrenzen zu wollen?
Wagner: Wir definieren uns über Gruppen, also Bezugsgruppen, denen wir zugehören. Und wir wollen uns positiv sehen. Wenn man diese beiden Mechanismen zusammen nimmt, dann führt das dazu, dass wir versuchen die eigene Gruppe aufzuwerten. Eine Möglichkeit besteht darin, die Fremden abzuwerten.
hessenschau.de: Häufig werden diese Aussagen auch aus einer persönlichen Erfahrung heraus getroffen, etwa wenn jemand Angehörige mit Behinderung hat. Ändert das etwas?
Wagner: Jemanden zu bewundern, der sich mit einer Behinderung oder auch nach einer schweren Krankheit wieder ins Leben hinein kämpft, das ist nicht das wirkliche Problem. Zum Problem wird es, wenn Menschen ohne Behinderung immer wieder dasselbe vortragen und die Interaktionsperson sich von den immer wieder gleichen Anmerkungen einfach genervt und auch abgewertet fühlt.
hessenschau.de: Sollten Menschen mit Behinderung einfach versuchen, weniger empfindlich zu sein?
Wagner: Das hat eine gesellschaftliche Komponente. Wenn in Gesellschaften Menschen mit Behinderung immer wieder in eine solche Rolle gedrängt werden, dass sie doch was Tolles vollbringen, dann ist das auch eine Form von subtiler Diskriminierung der Gruppe insgesamt. Damit unterstellt man nämlich eigentlich, dass Menschen mit Behinderung sowas nicht hinkriegen. Das ist der gesellschaftliche Stereotyp. Und durch solche Äußerungen besteht die Gefahr, dass man diesen gesellschaftlichen Stereotyp noch weiter untermauert.
hessenschau.de: Wie kann ich mich als Mensch ohne Behinderung "richtig" verhalten?
Wagner: Aus der Sicht der nicht-behinderten Mehrheit hilft Kontakt. Wir wissen aus unserer Forschung, dass immer dann wenn man in Kontakt miteinander kommt, diese Differenzierung in Eigengruppe und Fremdgruppe relativiert wird. Man lernt die Mitglieder der Fremdgruppe als Individuen kennen und man ist gar nicht mehr so erstaunt und gar nicht mehr so unsicher im Umgang miteinander. Also Kontakt hilft!
hessenschau.de: Wie kann ich als behinderter Mensch ein Umdenken anstoßen, ohne dass mein Gegenüber denkt, es darf gar nichts mehr sagen?
Wagner: Ich würde vorschlagen, aus der Eigenperspektive heraus zu argumentieren. Dem Gegenüber zu sagen, guck mal ich höre das ganz oft, bitte versteh das. Also um Verständnis bitten und keinen Vorwurf machen. Nicht signalisieren: Du bist mit Vorurteilen behaftet. Sondern aus der eigenen Betroffenheit argumentieren.
Das Gespräch führte Lisa Brockschmidt.