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Regina Porter, deren Debütroman im angelsächsischen Raum schon viel gelobt wurde. © Liz Lazarus
US-Roman

Regina Porter „Die Reisenden“: Meistens kommen sie ganz gut klar

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Regina Porters so reichhaltiger wie sparsamer Roman „Die Reisenden“.

Stellen Sie sich ein großes Puzzle vor. Jemand, der offenbar einen Plan hat, aber Sie verstehen ihn (noch?) nicht, legt ein Teilchen links unten hin, dann eines halbrechts oben, dann eines im ersten linken Drittel … Manchmal passt zu einem Teil sogleich ein anderes. Und noch eines. Etwas wird sichtbar. Aber bis zuletzt bleiben auch freie Flächen, sie sind keineswegs klein. Ihre Vorstellungskraft kann hier und da ein Stückchen ergänzen, aber es wird nie ein vollständiges Bild entstehen. Nicht, dass das irgendetwas macht: Selbst von Ihren Freunden, selbst von Ihrer eigenen Familie wissen Sie ja lange nicht alles. Manche von ihnen huschen mit ihrem Leben nur vorbei, berühren kurz Ihr eigenes.

Regina Porters soeben erschienener Debütroman „Die Reisenden“ („The Travelers“, 2019) ist ein solches Puzzle. Ist manchmal ein bloßes Vorbeihuschen. Macht einem andererseits manche Figuren fast vertraut. Jahreszahlen am Anfang jedes Kapitels, außerdem eine Liste der „handelnden Personen“ helfen ein wenig, den Überblick zu behalten. Die Liste umfasst 34 Personen, die meisten sind zwei Familien zuzuordnen, einer weißen, einer afroamerikanischen. Die wiederum einen Berührungspunkt haben in Person der schwarzen Shakespeare-Forscherin Claudia Christie und des weißen Joyce-Forschers Rufus Vincent, die ziemlich glücklich verheiratet sind, bis Rufus’ Vater James, „der alte weiße Mann“, nicht gut genug auf seine badende Enkelin aufpasst. Winona ertrinkt zwar nur beinahe – aber sollte man die Kinder Rufus’ Vater noch anvertrauen?

Keineswegs folgt „Die Reisenden“ zwischen den 1950ern und den 2010ern einem geraden Zeitstrahl; unberechenbar, welches Puzzleteilchen als nächstes kommt. Plötzlich ist der alte James der Junge Jimmy, zwölf und Zeuge eines Streits seiner Eltern. In der Folge zieht Nancy – „Jimmys Mutter nahm das Leben jugendlich“ – mit ihrem Sohn zu Onkel Monroe, der Fische verkauft und sich nichts aus Komfort macht. Später trifft die Leserin James Vincent etwas unvermutet wieder, weil er ein Treffen zwischen Rufus und Hank „moderieren“ will – Hank ist sein unehelicher Sohn. Die Halbbrüder wurden erwachsen, ohne voneinander zu wissen.

Geordnet sind die Familienverhältnisse nicht gerade; das betrifft nicht nur die Vincents. Man liebt und betrügt sich (beides kann zu einer „glücklichen Möse“ führen), packt die sieben Sachen, versucht es mit jemand anderem, der vielleicht auch wieder ein Irrtum ist. Aber eine hohe Dramatik ist nicht Regina Porters Sache, ihr Ton bleibt stets lakonisch, ihre Sätze sind nüchtern, schleifenlos, selbst wenn Yan seine Frau Adele krankenhausreif schlägt, selbst wenn die Freunde Eddie (Christie) und Jeb(ediah Applewood) den rassistischen Hauptbootsmann ins Meer kippen: „Die Hautfarbe trübte Nelly die Sicht, das Wasser setzte ihr ein Ende.“ Punkt.

Das Buch

Regina Porter: Die Reisenden. Aus dem Englischen von Tanja Handels. S. Fischer, Frankfurt 2020. 380 S., 22 Euro.

Überhaupt der Rassismus. Er ist natürlich ein Thema, aber dieses findet seinen Platz wie von selbst. Es ist, zum Beispiel, das Jahr 1983, Charles und Barbara Camphor (die mit der untreuen, dafür glücklichen Möse) möchten lieber nicht, dass Sohn Hank mit den Kindern der neuen Nachbarn spielt. Dabei könnten die Applewoods, Reuben war Offizier, Charlotte ist Lehrerin, kaum bürgerlicher sein. Oder es ist das Jahr 2010 und das schwarz-weiße Paar Claudia und Rufus müssen immer noch feststellen, „dass die Welt genug Probleme damit hat, dass es für uns beide reicht“. Die lesbische, schwarze Eloise zieht irgendwann lieber nach Berlin, Friedrichshain, findet die Deutschen zuerst furchtbar kalt, hat dann dort ihre frohesten, weil freiesten Jahre.

Die Lebenswege der Figuren –, des Möbelpackers, Chirurgen, der Stadtplanerin – laufen manchmal parallel, bisweilen touchieren sie sich nur. Oft erzählt Porter in Siebenmeilensätzen. Eine Art Klammer schließt sie zuletzt: In Kapitel zwei wird die junge Agnes mit dem „sittsamen Saum“ von zwei Verkehrspolizisten vergewaltigt. Im letzten Kapitel sieht sie (nach einem recht guten Leben) einen davon wieder – und bleibt still. Oft entscheidet sich Porter dafür, die Dinge niedrig zu hängen.

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Ein „Familienroman“ wurde „Die Reisenden“ genannt; er kommt einem wegen seiner locker ausschweifenden Struktur eher nicht so vor. Und die Autorin häkelt dieses Geflecht aus unterschiedlichen Erzählperspektiven, mit diversen stilistischen Mitteln. Ein Kapitel besteht aus einem Briefwechsel zwischen Eloise in Berlin und ihrer ersten Geliebten Flora Applewood. Eddies Enkelin Minerva schreibt ein Gespräch mit ihrem Vater als Theaterdialog auf. Kleine historische Schwarz-weiß-Bilder sind zudem hier und da in den Text eingefügt. Sie geben ihm eine Art zusätzlicher Beglaubigung; aber eigentlich braucht er sie nicht.

Denn dies ist kein Roman der außerordentlichen Begebenheiten. Seine Figuren sind kein bisschen überlebensgroß, hinter ihrem Tun liegt bisweilen ein Entschluss, oft aber auch nicht. Sie sind der Leserin gleichzeitig fremd und vertraut. Keiner leistet Außerordentliches, aber meistens kommen sie ganz gut klar.

Stellen Sie sich nun ein Puzzle vor, detailreich im Stil eines Wimmelbildes. An vielen Stellen muss Ihre Imagination fürs Wimmeln sorgen. Aber das klappt dank Regina Porters Fingerzeigen sicher ziemlich gut.