Gorki-Theater
Ruth Reinecke: „Spielen findet nicht im Kopf statt“
by Arno WidmannRuth Reinecke, bekannt aus „Weissensee“, aber auch mehr als 40 Jahre lang Ensemblemitglied des Berliner Gorki-Theaters, verabschiedet sich als Geist im „Hamlet“ von ihrer Bühnen. Ein Gespräch über einen unheimlich öffentlichen Beruf.
Sitzen Sie gut so, Frau Reinecke?
Es ist sehr schön, hinausschauen zu können. Ich war heute wieder ein paar Stunden in einem dunklen Probenraum. Der Geist hat ja nicht so viele Auftritte. Man steht dann im Dunkeln und wartet. Je älter ich werde, merke ich, desto mehr muss ich ans Licht. Womöglich habe ich, wenn man mein ganzes Theaterleben zusammenzählt, ein paar Jahre im Dunkeln verbracht.
Man wird Schauspieler, um im Rampenlicht zu stehen und verbringt dann sein Leben im Dunkeln?
Man wird nicht Schauspieler, um im Rampenlicht zu stehen. Man schauspielert allerdings auch nicht für sich im Wohnzimmer, man macht das für eine Öffentlichkeit.
Jetzt sind Sie dabei, sich von Ihrem Publikum, Ihrer Öffentlichkeit zu verabschieden.
Es ist ein großes Privileg, so in der Öffentlichkeit stehen zu dürfen. Ich war vor dem Gorki schon drei Jahre in Schwerin gewesen. Mehr als 44 Jahre auf der Bühne! Ohne Unterbrechung. Ich habe sehr viel Glück gehabt.
Als Sie nach Schwerin kamen, war das die große Zeit von Christoph Schroth.
Dort habe ich gelernt. Es war ein Dreispartenhaus. Wenn ich es betrat, spielten die Orchestermusiker sich ein, Sängerinnen und Sänger gurgelten ihre Tonleitern – so wurde ich empfangen. Ich liebte das. Die Schweriner mochten ihr Theater nicht. Unser Ehrgeiz war, sie zu knacken. Wir spielten nicht für eine vorhandene Öffentlichkeit. Wir eroberten uns eine. Das interessierte uns. Schauspielerin des Jahres zu werden, interessierte uns nicht.
Interessierte es irgendjemand in der DDR?
Die DDR war ein Land, in dem Individualität verpönt, um nicht zu sagen verboten, war. Man floh in die Nischen der Privatheit. Die Sonne kommt! Ist das nicht wunderbar.
Ganz freiwillig. Ich habe sie nicht einmal bestellt. Es gab aber doch auch immer wieder Schauspieler und Schauspielerinnen, die sehr betont eigene Persönlichkeiten waren. Manfred Krugs Karriere lebte von diesem Prinzip.
Nun es gibt unzählige Schauspieler, die sehr eigene Persönlichkeiten sind. Wer wirklich bekannt wird oder Karriere macht, hängt von vielem anderen ab. Ein Schauspieler ist nicht unbedingt eine Person, die pausenlos in der Öffentlichkeit stehen will. Aber jede seiner gespielten Personen und Figuren zeigt sich in der Öffentlichkeit. Und jede dieser Personen ist man selbst. Das ist unser Beruf. Wir spielen nicht nur Rollen, wir entwickeln uns mit ihnen. Wir spielen mit unserem Körper, unserem Gehirn, mit unseren Emotionen. Das geht immer zusammen.
Sie tun das in aller Öffentlichkeit.
Diese Öffentlichkeit im Theater ist der Zuschauer, das Publikum. Er sieht auf unser Spiel und lässt sich bestenfalls mitnehmen. Was passiert da konkret? Er erlebt: Die können im Spiel jemand anders sein und doch sie selbst bleiben. Wenn Schauspieler das können, kann er, der Zuschauer, das vielleicht auch? Das ist doch eine wichtige Erfahrung, ob man es sich bewusst macht oder nicht. Es gibt also eine Möglichkeit der Transformation im eigenen Leben.
Wovor man Angst hat?
Wovon man träumt und albträumt und vieles andere. Die Leute sind zum Beispiel beeindruckt von Marlene Kupfer.
Das heißt von der Ehefrau und Mutter der beiden Stasi-Mitarbeiter Hans und Falk Kupfer in der ARD-Fernsehserie „Weissensee“.
Sie denken nicht: Toll wie die Reinecke die Rolle spielt. Aber sie entdecken vielleicht die Züge ihrer Schwiegermutter oder denken womöglich: So sehr unterscheidet meine Ehe sich nicht von der der Kupfers. Es ist anregend für das eigene Leben. Der Betrachter bringt seine Lebenserfahrungen und Empfindungen ja mit.
Und wird die Empfindungen auf diese Weise los?
Vielleicht. Es sehen Millionen seit Jahrzehnten die „Lindenstraße“. Sie überprüfen ihre Empfindungen in gespielten Situationen, die ihren eigenen zum Verwechseln ähnlich sehen. Bei einer Hamburger Faust-Inszenierung vor vielen Jahren, so geht die Legende, sollen Zuschauer nach der Gretchenszene gerufen haben: „Heiraten! Heiraten!“
So reagiert die Öffentlichkeit.
In der Ausbildung brüllte mich eine Schauspiellehrerin einmal an: „Die Schauspielerei ist ein öffentlicher Beruf! Begreife das endlich: ein öffentlicher Beruf!“
Was meinte sie?
Zur Person
Ruth Reinecke,1955 in Berlin geboren, hat an der Staatlichen Schauspielschule Berlin (heute Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch) studiert und ihr erstes Engagement in Schwerin bekommen. Seit 1979 gehört sie zum Ensemble des Maxim Gorki Theaters in Berlin. Am heutigen Samstagabend spielt sie in ihrer letzten Premiere dort den Geist in Christian Weises Inszenierung des „Hamlet“.
Im Fernsehenwar sie unter anderem und besonders prägend als Marlene Kupfer in der Serie „Weissensee“ zu senen (2010-2018, die ersten beiden Staffeln kann man sich derzeit in der ARD-Mediathek anschauen).
„Hamlet“im Gorki Theater Berlin: 1., 2., 8., 10. Februar. www.gorki.de
Im Theater gehen Spieler und Publikum ein Verhältnis ein und das wird öffentlich und gemeinsam erlebt. Spielen findet nicht im Kopf statt.
Alles muss an die Öffentlichkeit?
An welche? Was ist die Öffentlichkeit eines Influencers in den digitalen Medien und was ist die Öffentlichkeit eines Schauspielers? Ein Influencer spielt nicht, er stellt sein Selbst aus. In dieser, von ihm begehrten Öffentlichkeit, glaubt er sich am besten verwirklichen zu können. Ein Schauspieler zieht sich ein Kostüm an, geht, bevor er vor das Publikum tritt, noch einmal auf die Toilette und spielt dann mit allen anderen mit größter Konzentration zwei Stunden lang sein Spiel.
Der Influencer tritt nicht vor ein Publikum, sondern vor die Kamera.
Er zielt auf ein unendlich viel größeres Publikum als der Schauspieler. Inzwischen soll es Sender geben, die berühmte Influencer in ihre Serien einbauen, um die Einschaltquoten zu erhöhen. Sie sind keine Schauspieler, aber sie haben die Öffentlichkeit. Davon will man profitieren. Früher war das Theater der Ort, an dem sich Öffentlichkeit bildete. Heute stehen Theater eher am Rand der vielfältigen Möglichkeiten von Öffentlichkeit.
Gleichzeitig aber wird unsere Öffentlichkeit immer stärker theatralisiert. Die Bundeskanzlerin hat sich eine Geste als Markenzeichen zugelegt: die Raute.
Politiker werden von den Medien verfolgt und suchen sie. Immer ist eine Kamera auf sie gerichtet. Also verhalten sie sich entsprechend. Wenn sie das nicht tun, freut sich die „Heute-Show“. Und wir auch. Das ist manchmal ganz gut für sie. Aber sie leben davon, ernst genommen zu werden. Also müssen sie sich auf ihre öffentlichen Auftritte vorbereiten. Sie trainieren das in Begriffen, Sätzen, Gesten. Das ist ein Problem. Denn wir wollen ihnen ja glauben können und nicht ihrer schauspielerischen Leistung auf den Leim gehen.
Jeder Manager lässt sich heute coachen für seine Auftritte. Ein Blitzkurs in Sachen Schauspielerei.
Warum fühlen sie sich nicht aus sich selbst heraus in der Lage, diese kleinen Schritte an die Öffentlichkeit, die zu ihren Aufgaben gehören, zu bewältigen? Man coacht inzwischen ja auch Mitarbeiter, damit sie lernen, besser miteinander auszukommen, besser aufzutreten, lernen, ihre Interessen besser zu vertreten. Was ist das für eine Entwicklung, da ist doch etwas verloren gegangen. Oder gibt es keine Direktheit mehr im Umgang miteinander?
Was meinen Sie?
Wir leben in einer Gesellschaft der Einzelnen, die ganz individuell wahrgenommen werden wollen. Viele Menschen gehen davon aus, dass niemand das Recht hat, über sie hinweg zu sehen. Sie wollen, dass man sich ihnen ganz individuell zuwendet. Öffentlichkeit ist nicht mehr etwas Gemeinsames da draußen, sondern jeder von uns fühlt sich heute als Teil von ihr. Wird er nicht wahrgenommen, fühlt er sich benachteiligt.
Auch am Theater?
Die Menge der Mitarbeiter von Management und Kommunikation im kleinen Gorki Theater hat sich in den letzten Jahren vervielfältigt. Sie alle müssen miteinander kommunizieren, innerhalb des Hauses und natürlich hinein in die Öffentlichkeit. Ich staunte nicht schlecht, als ich zum Beispiel feststellte, dass wir neun Dramaturgen, vier Gastdramaturgen plus Assistenten haben. Wie kommuniziert man? Kommt da wirklich eine transparente, für die gemeinsame Arbeit wirksame Kommunikation zustande? Und was kommt bei den Mitarbeitern und dem Ensemble an? Werden sie in ihren Belangen wirklich wahrgenommen?
Werden Sie?
Ich höre oft den Satz: „Das war ein Kommunikationsproblem.“ Dann wächst das ungute Gefühl, die Entscheidungen laufen eh ohne dich, Du bist nicht beteiligt. Dann macht man halt „sein Ding“. Und sein Ding machen heißt doch, der Rest interessiert mich null. Das ist die Botschaft. Und genau das erschreckt mich. Das ist für mich symptomatisch für diese strauchelnde, zaudernde Gesellschaft. In der verzweifelten Suche nach einem Halt landet man bei sich selbst. Das andere, das Gegenüber, die Öffentlichkeit blendet man weg.
Geht das Theater dagegen an oder ist es auch Ausdruck davon?
Beides. Auch wenn man gegen seine Zeit angeht, man entkommt ihr nicht.
1989 sah das anders aus.
Damals gab es in der DDR die Kirchen und die Theater, die Öffentlichkeit schufen. Zeitungsredaktionen taten das nicht.
Ihre letzte Premiere wird „Hamlet“ sein. Den Geist von Hamlets Vater werden Sie spielen. Warum nicht den Hamlet?
Man hat mich nicht gefragt und ich wäre auch selbst nicht auf die Idee gekommen.
Es gibt im Land wohl keine Schauspielerin Ihres Bekanntheitsgrades, die seit 1979 an derselben Bühne ist, und statt eines prächtigen Abgangs mit dem Hamlet, der immer wieder von großen Schauspielerinnen gespielt wurde, verschwinden Sie mit dem winzigen Text vom Geist in „Hamlet“ aus Ihrem Theater.
Als Geist zu verschwinden ist doch nicht so schlecht und kommt der Realität von Theaterschauspielern recht nahe. Man ist dann einfach weg.
Interview: Arno Widmann