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Seit elf Jahren lebt die Deutsche Tanja Bültmann (hier zu Gast in der Talkshow "Anne Will") in Grossbritannien. Als Gründerin der Organisation "EU Citizens‘ Champion" versucht sie, den EU-Bürgern im Land eine Stimme zu geben. (Archivfoto)© imago images / Jürgen Heinrich

Deutsche in Grossbritannien: "Wir müssen uns bewerben, um bleiben zu können"

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Seit elf Jahren lebt die Deutsche Tanja Bültmann in Grossbritannien. Als Gründerin der Organisation "EU Citizens‘ Champion" versucht sie, den EU-Bürgern im Land eine Stimme zu geben. Am 31. Januar um Mitternacht werden die Briten die Europäische Union verlassen. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die Historikerin über die Stimmung im Land, rechtlichen Hürden und über die ungewisse Zukunft des Königreichs.

Am heutigen Freitag um 24:00 Uhr ist es endgültig so weit: Grossbritannien verlässt die Europäische Union. Welche Auswirkungen der Brexit tatsächlich hat, wird sich allerdings erst nach der Übergangszeit, die bis 31. Dezember 2020 dauert, zeigen. Das gilt insbesondere für die in der EU lebenden Briten, aber auch für die in Grossbritannien lebenden EU-Bürger.

Eine davon ist Tanja Bültmann. Im Interview mit unserer Redaktion spricht die Professorin für Geschichte an der Northumbria University über ihre Situation als Deutsche im Vereinigten Königreich.

Frau Bültmann, am Freitag wird der Brexit Wirklichkeit. Wie werden Sie den Tag verbringen?

Tanja Bültmann: Ich werde in London sein und zu einer Euro-Trash-Party gehen. Übersetzt also zu einer Euro-Müll-Party. Wir EU-Bürger wurden hier über die letzten dreieinhalb Jahre von der Regierung leider oft wie Müll behandelt. Da ist das Partymotto natürlich selbstironisch gemeint, als Gegenprogramm zu einem für uns sehr traurigen Tag.

Was wird sich für Sie und die 3,6 Millionen EU-Bürger im Vereinigten Königreich am Freitag ganz konkret ändern?

Wir gehen ja zunächst in die Übergangsphase, da ändert sich im ersten Moment offiziell nichts. Ganz allgemein bestätigt der Freitag aber all den Hass, den wir erlebt haben. Regierungsmitglieder haben im Prinzip gesagt, dass EU-Bürger alles mögliche Schlechte nach Grossbritannien bringen und den Staat ausnehmen. Das ist traurig und macht mich nachdenklich. Ganz konkret müssen wir EU-Bürger jetzt etwas unternehmen, wenn wir bleiben wollen. Es gibt einen neuen Status, auf den wir uns bewerben müssen – und damit gibt es etliche Probleme.

Was hat es mit diesem neuen Status auf sich?

Wir EU-Bürger konnten bis jetzt aufgrund der Freizügigkeit in Grossbritannien arbeiten, das Gesundheitswesen nutzen und so weiter. Das fällt jetzt weg. Grundsätzlich kann ich verstehen, dass man einen neuen Status braucht, um uns von EU-Bürgern zu unterschieden, die nach dem Brexit ins Land kommen. Um unseren neuen Status zu bekommen, ist ein spezielles Verfahren nötig. Für Leute, die technisch versiert sind, kann das relativ schnell und einfach gehen. Die Tatsache, dass es ein Bewerbungsverfahren und keine reine Registrierung ist, setzt Menschen allerdings sehr zu. Man muss erst einmal damit klarkommen: In einem Land, in dem man vielleicht seit 40 Jahren lebt, muss man sich bewerben, um bleiben zu können.

Wo liegen die konkreten Probleme?

Leute, die weniger als fünf Jahre hier im Land sind, bekommen zunächst nur einen Vorstatus. Diese mehr als 900.000 Menschen müssen sich alle noch einmal auf den vollen Status bewerben, wenn sie ihre fünf Jahre voll haben. Es gilt zudem eine fixe Frist, zu der man sich beworben haben muss. Aber was ist mit den vielen Menschen, die überhaupt nicht wissen, dass sie sich bewerben müssen? Was ist mit der 90-jährigen dementen Frau, die im Altersheim ist und vielleicht gar nicht mehr weiss, dass sie EU-Bürgerin ist? Ich habe keinen Zweifel daran, dass nach der Frist Tausende EU-Bürger hier in Grossbritannien illegal sein werden.

Finden Sie mit Ihren Anliegen in der britischen Öffentlichkeit Gehör?

Das kommt darauf an, wo man hinschaut. In Schottland hat das Parlament zum Beispiel eigene Unterstützungsprogramme für EU-Bürger ins Leben gerufen, die weit über das hinausgehen, was es in Grossbritannien insgesamt gibt. Das Gleiche gilt für London. Im britischen Parlament hat die Scottish National Party immer geholfen – und auch die Liberaldemokraten.

Und die Regierung?

Was Regierungsmitglieder zum Beispiel auf Twitter schreiben, klingt häufig toll. Da werden EU-Bürger als Familie oder Freunde bezeichnet. Diese Worte sind aber völlig bedeutungslos, wenn man sich das tatsächliche Verhalten anschaut. Im Wahlkampf hat Boris Johnson gesagt, dass EU-Bürger Grossbritannien zu lange als ihr Zuhause angesehen haben. In der EU hat man bisher verkannt, wie schlimm dieser populistische Wortschatz ist. In Europa ist auch wenig bekannt, wie sehr die britische Regierung schon seit Jahren gegen Migranten hetzt. Es gibt hier die Vorstellung des sogenannten hostile environment, der feindlichen Umgebung: Indem man es für Migranten hier möglichst unangenehm macht, sollen sie am besten von selbst wieder gehen.

Gerät man da nicht wirklich ins Grübeln, ob es besser wäre, das Land zu verlassen?

Natürlich. Viele haben das schon gemacht – gerade viele Ärzte, Krankenschwestern, Wissenschaftler. Doch wenn man Grossbritannien als sein Zuhause ansieht, weil man hier schon lange gelebt oder das Land immer geliebt hat, ist das nicht so einfach. Ich habe dazu gerade eine wissenschaftliche Umfrage gemacht. Dabei ist herausgekommen, dass viele EU-Bürger gar nicht mehr wissen, wo ihr Zuhause ist. Viele haben geglaubt, es sei hier. Die können nicht einfach sagen: Ich packe jetzt die Koffer.

Wenn Sie in die Zukunft schauen – wie wird der Brexit Grossbritannien in zehn Jahren verändert haben?

Es ist meine persönliche Meinung, aber vieles weist darauf hin, dass es das Vereinigte Königreich dann nicht mehr gibt. Ich habe die Unabhängigkeit Schottlands schon vor dem Brexit immer unterstützt. Noch nie ist so klar gewesen, wie gross die Unterschiede zwischen Schottland und England sind. Schottland, Nordirland und Wales sind in diesem ganzen Brexit-Prozess nur ignoriert worden. Ich denke deshalb, dass die Unabhängigkeit Schottlands ein Resultat des Brexit sein wird. Ich würde auch einen Zusammenschluss von Nordirland und der Republik Irland nicht ausschliessen. Dort ist die Angst um das Friedensabkommen enorm gross, wenn es doch wieder eine Grenze innerhalb Irlands gibt.

Tanja Bültmann hat in Bielefeld und Edinburgh Anglistik, Geschichte und Soziologie studiert und in Neuseeland promoviert. Seit elf Jahren lebt Bültmann in Grossbritannien, 2017 wurde sie Professorin an der Northumbria University im nordenglischen Newcastle. Ihr Schwerpunkt ist Migrationsgeschichte. Bültmann ist Gründerin der Kampagne "EU Citizens‘ Champion".
Teaserbild: © imago images/ZUMA Press