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dpa/Julian Stratenschulte/dpabild Eine Lehrerin schreibt an eine Schultafel eine Gleichung.

"Die Egoisten sind eine große Herausforderung": Grundschul-Lehrerin: Kinder können sich nicht mehr an Regeln halten

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Juli (Name geändert) ist seit 15 Jahren Grundschullehrerin. In dieser Zeit hat sich viel verändert, wie sie findet. Im Interview verrät die Pädagogin, wie sich die Eltern verändert haben und was heute große Herausforderungen sind.

Juli, warum hast du diesen Beruf ergriffen und kannst du ein bisschen über die Grundschule erzählen, an der du arbeitest. 

Juli: Ich arbeite an einer Grundschule im wohlhabenden Speckgürtel einer deutschen Großstadt, wir haben ca. 250 Schüler und sind eher dörflich hier. Unsere Schülerschaft hat nur einen sehr geringen Anteil nicht-deutscher Kinder, selbstverständlich unterrichten wir auch Inklusions-Kinder. Ich bin GS-Lehrerin geworden, weil ich schon immer viel Freude im Umgang mit Kindern hatte, ich war eine beliebte Babysitterin und Nachhilfelehrerin während meiner eigenen Schulzeit. Außerdem bin ich immer sehr gerne zur Schule gegangen und habe gern gelernt. Schule war also für mich immer positiv besetzt.

Du hast gerade eine erste Klasse. Oft hört man, dass Kinder bereits in der 1. Klasse unter enormen Druck stehen. Siehst du das auch so?

Juli: Druck ist ja immer relativ. Was der eine als Druck empfindet, sieht der andere als angemessene Belastung. Wenn Hausaufgaben und Lesen-üben schon als Druck empfunden werden, ja, dann kommt auch Druck von mir/der Schule. Ich halte das aber für normale Anforderungen im Rahmen der Schule.

Spannend, aber gerade keine Zeit?

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Für mich ist Druck, wenn Eltern sagen: Wenn du im Test 0 Fehler schaffst, kriegst du fünf Euro. Das fängt zum Teil schon in der 1. Klasse an und ich finde dieses „Bezahlen für Leistung“ ganz furchtbar in der Grundschule. Ich sage den Eltern immer, dass ihre Kinder ihr Bestes geben und niemand mit Absicht Fehler macht. Unter den Kindern entsteht dann oft auch Druck, weil man ja auf keinen Fall schlechter sein will als xy und weil man die fünf Euro oder das neue Playstation-Spiel eben unbedingt haben will. Da hab ich schon viele Tränen fließen sehen.

Du begleitest seit 15 Jahren Kinder - wie haben sich die Kinder in dieser Zeit verändert?

Juli: Die Kinder kreisen viel mehr um sich selbst und sehen sich oft nicht als Teil einer Gemeinschaft. Der eigene Vorteil ist wichtig, wie es anderen geht, interessiert viele nicht mehr. Es gibt auch immer mehr Kinder, die „grenzenlos“ sind, sie können sich ganz schwer an Regeln halten und sich dementsprechend auch ganz schwer in eine Klassengemeinschaft integrieren.

Mal abwarten, wenn die Lehrerin gerade mit einem anderen Kind beschäftigt ist, können manche Kinder nicht. Ich vermute, dass da im Elternhaus auch zu wenig Grenzen gesetzt werden. Die Kinder erwarten eine prompte Bedienung und Wunsch-Erfüllung. Und wenn das nicht sofort klappt, ist der Frust groß und kann nur schlecht ausgehalten werden. Im schlimmsten Fall flippt man dann völlig aus, weil man beim Klassenspiel nicht gewonnen hat oder nicht dran genommen wurde von der Lehrerin.

 

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Und wie haben sich die Eltern verändert?

Juli: Ich führe viel mehr Elterngespräche als noch zu Anfang meiner Dienstzeit, einfach weil mehr Schwierigkeiten auftauchen und Redebarf besteht. Meistens kommunizieren wir gut miteinander und suchen Lösungen im Sinne des Kindes. Es kommt aber auch vor, dass Eltern das Verhalten ihres Kindes in der Schule schlicht leugnen (sowas macht er zuhause nie, das kann ich mir nicht vorstellen!) und ihr Kind für alles in Schutz nehmen.

Ich habe mal ein Kind abholen lassen, weil es auf dem Schulhof auf andere eingeschlagen hat. Die Mama kommt und das erste, was sie zu ihrem Kind sagt, ist: "Ach, Schnuppi, was ist denn mit dir?" und nimmt das Kind vor mir beschützend in den Arm. In meinem Einzugsgebiet kommt es auch nicht selten vor, dass Eltern anrufen, weil es eben nur eine vier in der Arbeit gab und die Eltern nicht zufrieden damit sind. Das Kind kann mit der vier gut leben, die Eltern aber nicht, weil sie die Gymnasial-Empfehlung in Gefahr sehen.

Wie unterschiedlich sind heute die Herausforderungen im Vergleich zu früher?

Juli: Die „Egoisten“ sind eine große Herausforderung. In schlimmsten Fall hindern sie mich daran, zu unterrichten, weil ich mich um die Belange einzelner kümmern muss und immer wieder Konflikte auftauchen, die geklärt werden müssen.

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Als ich anfing vor 15 Jahren, lief der Unterricht reibungsloser, da ruhten die Kinder irgendwie in sich und konnten sich auf den Unterricht konzentrieren. Heute bringen viele Kinder eine „Grund-Unruhe“ mit und ich habe schon oft drüber nachgedacht, ob es mit den digitalen Medien zu tun hat, die Kinder vor 15 Jahren einfach nicht zur Verfügung hatten.

Viele Kinder passen heute nicht mehr ins normale Schulsystem. Ist unser System einfach überholt oder liegt es an der Erziehung der Eltern?

Juli: Interessante Frage! Wenn man meine Punkte bedenkt, die ich oben genannt habe, müsste man schon sagen, dass System Schule, in dem ich arbeite, nicht mehr für manche Kinder passt. Aber bei den Kindern sehe ich meistens die Erziehungsfehler im Elternhaus, da hätte ich Bauchschmerzen, wenn wir das System ändern und die Erziehung jetzt als passende Grundlage hinnehmen.

Ich glaube, Erziehung wird für Eltern immer schwieriger, weil es so viele verschiedene Erziehungsstile gibt und ständig neue Impulse kommen, die ja auch durch soziale Medien etc. sofort verfügbar sind. Viele Eltern sind sicher zu Recht verunsichert, was denn nun der richtige Weg in der Erziehung ist. Den einen richtigen gibt es ja sowieso nicht, aber Verbindlichkeit und Konsequenz sind für mich Grundpfeiler, die manchen Eltern schon schwer fallen.

Gibt es Tage/Situationen, die dich aktuell an Deine Grenzen bringen?

Juli: Meine Erstklässler sind noch sehr wuselig, wenn 25 gleichzeitig etwas wollen, bringt mich das an meine Grenzen. Ich bin dann auch unzufrieden mit mir, weil ich nicht allen gerecht werde und nur „Brände“ lösche, zum Beispiel wenn zwei sich prügeln, einer stolpert und zwei Flaschen umkippen in demselben Moment. Ich komme noch nicht dazu, mich in Ruhe zu manchen Kindern dazuzusetzen, um ihnen mal fünf Minuten beim Lesen zu helfen. Das strengt mich an. Ich finde, dass mehr als 20 Kinder in einer 1. Klasse zu viel sind, um allen gerecht zu werden, das ist echt schade und unbefriedigend.

Wie bewertest du die aktuelle Betreuungssituation von Schülern?

Juli: Die Mehrheit der Kinder geht nachmittags in den Hort, einige jeden Tag bis 17 Uhr. Das ist länger als manch ein Arbeitstag von Erwachsenen. Für Lesen-üben (was die Hortbetreuer verständlicherweise nicht leisten können), Vorlesen, vom Tag erzählen etc. bleibt da wenig Zeit und das sehe ich dann auch in den schulischen Leistungen.

Ich weiß, dass manche Eltern finanziell darauf angewiesen sind, so zu arbeiten und die Kinder deshalb so lange in den Hort gehen müssen. Aber bei manchen Eltern frage ich mich, warum habt ihr Kinder bekommen, wenn ihr sie die ganze Woche komplett fremdbetreuen lasst, um so viel Geld zu verdienen, weil die 4 Urlaube im Jahr finanziert werden müssen.

Eigentlich ist die Zeit, in der die Kinder ihre Eltern brauchen, gar nicht so lang, warum kann man da beruflich und finanziell nicht etwas kürzertreten zugunsten des Kindes? Wenn sie auf die weiterführende Schule gehen, brauchen sie uns nicht mehr so in dem Maße wie im Kita/Grundschulalter, dann kann man doch wieder mehr arbeiten.

Es herrscht akuter Lehrermangel - woran liegt das?

Juli: Das frag ich mich auch, denn nach wie vor ist es ja ein toller Beruf! Ich glaube, dass jahrelange Fehlplanungen in den Ministerien Schuld sind. Es gibt jedenfalls genügend Leute, die Lehrer werden möchten.

Hausaufgaben sind DAS Reizthema in vielen Familien - wie steht du dazu und hast du Tipps, wie man gelassen damit umgeht?

Juli: Regelmäßigkeit und gleichbleibende Abläufe könnten schon hilfreich sein. Meine Schüler bekommen vom 1. Tag an Hausaufgaben und zwar täglich, so dass sie dran gewöhnt sind. Hausaufgaben ist wie Zähneputzen - es muss halt sein. Die Kinder so gut es geht alleine machen lassen, und wenn es zuviel wird oder nur im Streit abläuft, mit der Lehrkraft mal sprechen. Für uns Lehrer ist es eine wichtige Rückmeldung, wenn was nicht gut läuft.

Wenn du etwas an deinem Beruf/den Umständen ändern könntest - was wäre das?

Juli: Wenn ich nur einen Wunsch frei hätte, wären es kleinere Klassen, am besten mit maximal 20 Kindern. In meinem Bundesland würde ich die Vorschule wieder einführen, um einen Übergang zwischen Kita und Schule zu schaffen und den Kindern den Sprung ins ganz kalte Wasser abzumildern.

Gibt es noch etwas, was Dir zu dem Thema wichtig ist?

Juli: Lehrer sein ist für mich immer noch ein spannender Beruf, der mir immer wieder Freude macht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Stadtlandmama.de

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