Gastbeitrag von Gabor Steingart: Nicht die Briten könnten einen hohen Preis für den Brexit zahlen, sondern wir
by FOCUS OnlineMit großer Regelmäßigkeit werden in den deutschen Medien zwei Mythen über den Brexit gepflegt, die mit der Wirklichkeit auf Kriegsfuß stehen.
Mythos 1: Boris Johnson sei ein Wahnsinniger, gewissermaßen der Betriebsunfall der britischen Geschichte.
Fakt ist: Boris Johnson ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel der britischen Geschichte. Würde Winston Churchill noch leben, wäre er heute im Johnson-Lager. Um Mitternacht, wenn das Inselreich feierlich die EU verlässt, schwebt er als Bruder im Geiste über Downing Street No. 10.
In seiner legendären Rede vor der Universität Zürich im Jahr 1946 drängte Churchill die Europäer zwar zum Zusammenschluss:
„We must build a kind of United States of Europe.“
Aber er nahm ein Land von diesen Bauarbeiten aus: das eigene. Wer damals genau hinhörte, bekam exakt jene Sicht auf Kontinentaleuropa präsentiert, die bis heute Gültigkeit besitzt:
„Großbritannien, das mächtige Amerika und, ich hoffe, Sowjetrussland müssen die Freunde und Förderer des neuen Europa sein.“
„Das Land hat seine eigenen Träume“
Freunde und Förderer, nicht Verwandte. Und Churchill hatte schon im Jahr 1930 seine Definition eines globalen, aber souveränen Landes hinterlegt:
„Das Land hat seine eigenen Träume und Aufgaben. Wir gehören zu keinem einzelnen Kontinent, sondern zu allen.“
Er blieb dabei. Im Jahr 1951 sagte er zu seinem deutschen Amtskollegen Konrad Adenauer:
„Sie können beruhigt sein, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen.“
Adenauer, ein Kanzler der sich auf die Nuance verstand, erkannte die Distanzierung:
„Herr Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht. England ist ein Teil Europas.“
Heute Nacht erhält Großbritannien seine Unabhängigkeit zurück. Nach 47 Jahren Mitgliedschaft in der Europäischen Union feiert London mit einem großen Feuerwerk das Ereignis.
Zur Person
Gabor Steingart zählt zu den bekanntesten Journalisten des Landes. Er gibt den Newsletter „Steingarts Morning Briefing“ heraus. Der gleichnamige Podcast ist Deutschlands führender Daily Podcast für Politik und Wirtschaft. Im Frühjahr 2020 zieht Steingart mit seiner Redaktion auf das Redaktionsschiff „Pioneer One“. Vor der Gründung von Media Pioneer war Steingart unter anderem Vorsitzender der Geschäftsführung der Handelsblatt Media Group.
Sein kostenloses Morning Briefing finden Sie hier: www.gaborsteingart.com
Die Investoren der Londoner City sind euphorisiert
Mythos 2: Großbritannien werde mit dem Verlust von Jobs und Wohlstand für diese Unbotmäßigkeit bezahlen. Darauf deutet derzeit nichts hin, im Gegenteil:
► Die Investoren der Londoner City sind euphorisiert. Sie hoffen auf ein von der Brüsseler Bürokratie befreites Land und damit auf eine Regulierungsarbitrage. Der Vorstand der Bundesbank, Joachim Wuermeling, hat das verstanden. Er warnt die EU vor einer „Art Offshore-Finanzplatz in Europa“.
► Neue bilaterale Handelsabkommen mit den USA, Kanada oder Australien sollen der britischen Wirtschaft, die 2019 bereits fast doppelt so schnell wuchs wie die deutsche Volkswirtschaft, neue Impulse geben. „Mit Blick auf die nächsten fünf Jahre bin ich unglaublich zuversichtlich“, sagt James Hanbury, Portfolio-Manager bei Odey Asset Management.
► Großbritannien ist vom Binnenmarkt nicht in gleicher Weise abhängig wie Deutschland. Das Land wickelt zwar die Hälfte seines Außenhandels mit der Europäischen Union ab – die Handelsbilanz aber weist ein Verlustgeschäft aus. 2018 lag das Defizit bei 107,4 Milliarden Euro gegenüber der EU.
Wertvollstes britisches Unternehmen sieht den Brexit gelassen
► Großbritannien kann sich – befreit von einer politisierten Außenhandelspolitik der EU – nun auch dem Geschäft mit schwierigen Ländern wie Iran und China widmen. Johnsons Entscheidung für eine Beteiligung des chinesischen Kommunikationskonzerns Huawei am Aufbau des 5G-Netzes war ein erstes Wetterleuchten.
► Das wertvollste britische Unternehmen, der Banken-Multi HSBC, sieht den Brexit gelassen. Der wichtigste Markt jenseits des Heimatlandes ist Asien. Mit der HSBC France und Trinkaus & Burkhardt in Düsseldorf ist die Bank in der EU vertreten. Mehr Europa muss aus Sicht der Manager nicht sein.
► US-Präsident Trump will den Briten mit einem „robusten“ Handelsabkommen unter die Arme greifen. Johnson setzt auf eine ökonomische Expansion der „special relationship“.
Fazit: Wir müssen den Austritt der Briten nicht feiern, aber verstehen. Der Verbleib Großbritanniens in der EU entsprach unseren Interessen, aber zuletzt nicht mehr den ihren. Die deutschen Medien sollten sich besinnen: Sie haben der Wahrheitsfindung zu dienen, nicht der Verhandlungsposition der EU-Kommission.
Katarina Barley: „Ich bin sehr traurig“
Die frühere Justizministerin und jetzige SPD-Abgeordnete im Europaparlament Katarina Barley ist Tochter eines Briten und einer Deutschen. Mit welchen Gefühlen erlebt sie die kommenden Stunden und wie blickt sie auf die nahe Zukunft: Darüber spricht „Welt“-Vize Robin Alexander mit ihr im Morning Briefing Podcast. Barley macht aus ihrer Niedergeschlagenheit keinen Hehl:
„Ich bin sehr traurig. Der Abschied von den britischen Kolleginnen und Kollegen im Parlament steckt mir noch in den Knochen. Dieses Land so verändert zu sehen, so zerrissen, so gespalten, das tut mir sehr weh.“
Mit Blick auf den Sozialstaat sagt die 51-Jährige:
„Viele soziale Rechte basieren auf europäischem Recht. Wenn in Großbritannien diese Rechte jetzt abgebaut werden, finde ich das nicht fortschrittlich. Hier macht man Politik gegen die Menschen.“
Womöglich zahlen nicht die Briten einen hohen Preis für den Brexit, sondern wir
Der Brexit reißt eine Lücke von bis zu zehn Milliarden Euro auf der Einnahmenseite der EU. Barley fordert, dass alle EU-Mitglieder für den in Zukunft fehlenden Briten-Beitrag aufkommen müssen:
„Der Beitrag von allen Mitgliedsstaaten sollte steigen. Wir müssen das auffangen. Das ist allen klar.“
Deutschland als größter Beitragszahler dürfte in besonderer Weise gefordert sein. So ironisch kann Geschichte sein: Womöglich zahlen nicht die Briten einen hohen Preis für den Brexit, sondern wir.
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