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Der 21-jährige Sascha Lehmann ist mit Kletterhallen gross geworden und schafft die 15-Meter-Route in knapp 7,5 Sekunden. Foto: David Schweizer

«Im Final lasse ich einfach alles raus»

Sascha Lehmann ist der einzige Schweizer Kletterer mit Chancen, sich noch für Olympia zu qualifizieren. In Moskau muss er dafür ein gutes Resultat erzielen.

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«Es ist kompliziert», sagt Sascha Lehmann im Grand Hotel in Magglingen, einem schmucken Bau hoch über Biel, wo das Bundesamt für Sport die besten Athleten unterbringt. Es gibt kaum einen besseren Ort, an dem Talente trainieren und sich auf ihre grossen Momente konzentrieren können. Im Mittelland macht sich leichter Nebel breit, dahinter stehen die Alpen wie verschneite Zaungäste, drinnen knarrt der Parkett­boden, Sonnenlicht fällt durch die hohen Fenster.

Kompliziert ist die Frage, ob Sascha Lehmann, derzeit stärkster Wettkampfkletterer der Schweiz, noch Chancen auf Olympia hat. Er gibt dann aber doch eine überraschend einfache Antwort: «Ich muss an der Europameisterschaft in Moskau einfach Vollgas geben, alles andere blende ich aus.» Der ganze Kontext grob umrundet: Vierzig Athleten und Athletinnen dürfen bei Olympia starten, zwei pro Land und Geschlecht. 15 der Herrenplätze wurden im Rahmen der Qualifikationsevents schon vergeben. Bleiben noch fünf freie Plätze, die an den Kontinentalmeisterschaften zu erobern sind.

Für Sascha bedeutet das: Er muss an den Europameisterschaften im März Erster werden, wenn er die Qualifikation auf sicher haben will. Kein leichtes Unterfangen. «Angenommen, ich werde zum Beispiel Sechster, doch die fünf Athleten vor mir sind schon qualifiziert, dann würde es dennoch reichen. Aber die Rechnerei spielt eigentlich keine Rolle, ich will einfach in allen drei Disziplinen mein Bestes geben.»

Kontroverses Format

Als vor drei Jahren entschieden wurde, dass Sportklettern in Tokio erstmals olympisch ausgetragen wird, herrschte zuerst Freude in der Szene – längst hatte sich Klettern zu einem publikumswirksamen Sportevent entwickelt, Olympia würde der Sportart die Bühne verschaffen, die ihr gebührt. Doch kaum wurde das Wettkampfformat kommuniziert, folgte Ernüchterung. Es sollte ein kombinierter Wettkampf werden: Die drei klassischen Disziplinen Lead (Klettern am Seil), Bouldern (Klettern in Absprunghöhe) und Speed (15 Meter möglichst schnell hochklettern) wurden zu einem Paket geschnürt.

Sieger wird, wer über alle drei Disziplinen am besten abschneidet. Nur: Bis zum Bekanntwerden des olympischen Wettkampfformats gab es praktisch keine Athleten, die in allen drei Disziplinen antraten. Leadkletterer bevorzugen lange Routen mit einzelnen Schlüsselstellen und Rastpunkten. Sie sind gut darin, ihre Ausdauer einzuteilen und in einfacheren Passagen zu regenerieren. Demgegenüber ist Bouldern sozusagen der Espresso des Kletterns: Kurze Distanzen von rund 4 Metern mit anhaltender Schwierigkeit werden geklettert. Beim Speed geht es um einen vertikalen Sprint auf einer standardisierten, 15 Meter hohen Route. Der Rekord liegt bei 5,48 Sekunden.

Viele Athleten hätten sich gewünscht, dass jede Disziplin ihren eigenen Olympiasieger kürt. Stattdessen mussten alle Athleten jede der drei Disziplinen beherrschen, wollten sie ihre Chance auf Olympia wahren. Vor allem mit der Disziplin Speed taten sich viele schwer. Der Kampf um Hundertstel­sekunden ist quasi die Randsportart in der Randsportart Klettern, und es wurde moniert, dass die Speed-Disziplin zu hoch gewichtet werde.

Sascha Lehmann sieht der Diskussion gelassen entgegen. Mit 21 Jahren gehört der Burgdorfer der Generation an, die mit Kletterhallen und spiele­rischen Formen des Kletterns gross geworden ist. «Mir geht es zwar schon wie den meisten anderen: Speed ist nicht meine Paradedisziplin. Aber ich habe mich durchaus angefreundet damit.» Er schafft die 15-Meter-Route in knapp 7,5 Sekunden.

Trotz Verletzungen stark

«Unabhängig von der Disziplin gilt für mich: Sobald ich in eine Wand einsteige, kann ich alles ausblenden und nur darauf fokussieren, wie ich hochkomme. Mein Kopf ist einerseits leer, andererseitsbin ich hoch konzentriert auf das, was zählt: immer höher kommen – der nächste Tritt, der nächste Griff. Die totale Kontrolle über jede Bewegung haben, das fasziniert mich.»

Schon als Kleinkinder erprobten Sascha und sein Bruder Remo die Vertikale. Die ­Eltern sind beide begeisterte Kunstturner, an Wochenenden frönte die Familie stets einer Aktivität im Freien: Skifahren, Wandern, Klettern. Sascha und sein Bruder tauchten nach dem Vorbild der Eltern ins Geräteturnen ein, bestritten erste Wettkämpfe. «Da habe ich gelernt, meinen Körper zu beherrschen», sagt Sascha.

Etwas, das ihm danach im Klettern zugutekommt – besonders seit das Wettkampfklettern, im Bestreben, fürs Publikum attraktiv zu sein, immer turnerischer wird. «Vor allem im Bouldern wird das Bewegungsspektrum immer mehr ausgereizt. Wer einen Spagat beherrscht, hat definitiv Vorteile», sagt Sascha schmunzelnd.

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Sascha Lehmann beim Bouldern an der WM 2019 in Japan. Foto: David Schweizer

2015 gewann er die Jugendweltmeisterschaften in der Disziplin Lead. Im gleichen Jahr kletterte er an seinem ersten Wettkampf in der Elite sogleich in den Halbfinal. Ein Jahr später schaffte er es erstmals in den Elitefinal und wurde Sechster. Seinen grössten Erfolg erzielte er letzten Sommer, als er in Villars vor Heimpublikum seinen ersten Weltcupsieg verbuchte. Egal, wie namhaft die Konkurrenz ist oder wie sehr das Publikum tobt – vom ersten Moment, als Sascha die grosse Wettkampfbühne des Kletterns betrat, wirkte er wie ein Routinier und Newcomer zugleich.

Die Topresultate scheinen sich in den letzten drei Jahren nahtlos aneinanderzureihen, was über die Verletzungspausen hinwegtäuscht, die Sascha, wie praktisch jeder Profisportler, durchlief. 2017 startete er vielversprechend in die Saison, verletzte sich an den Europameisterschaften aber an der linken Schulter und verpasste die Lead-Weltcups im Sommer. Kaum genesen, wurde er im Herbst Jugendeuropameister.

Drei Monate später erlitt er einen Kreuzbandriss, musste das erste Halbjahr 2018 pausieren – und setzte dann seinen Feldzug wieder fort, als wäre nichts gewesen: Viermal kletterte er in der verbleibenden Saison 2018 in den Elitefinal. «Verletzungen sind im Klettern weniger Karrierekiller als in anderen Sportarten», meint Sascha. «Für Skifahrer kann ein Kreuzbandriss das Karriere­ende sein, Klettern ist schonender. Eigentlich zwickt immer etwas, ob das jetzt die Schulter ist oder ein Fingerglied.»

Rückblickend hätten seine Verletzungspausen auch wertvolle Perspektivenwechsel mit sich gebracht, betont er. «Klar, im ersten Moment sieht man seine Träume zerbrechen, das ist hart. Aber dann braucht es einen Plan, den man konsequent verfolgt. Man fängt wieder unten an und freut sich über jeden Fortschritt. Das motiviert mich eigentlich umso mehr.»

An den Europameisterschaften im letzten Oktober holt er Bronze, kann dann aber im letzten Qualifikationswettkampf in Toulouse das Olympiaticket trotz Bestform nicht lösen. Er klettert im Lead, seiner Paradedisziplin, zwar auf den soliden vierten Rang, liegt in der Kombinationenwertung aber auf Rang 15 – nur die ersten acht werden für Olympia selektioniert.

Der Traum scheint in weite Ferne zu rücken, nach Moskau, wo im März der bereits erwähnte Sieg hermüsste. Und doch wirkt es nun in Magglingen, als sei Moskau gar nicht so fern. «Dass ich den Halbfinal erreichen kann, weiss ich. Und im Final ist alles möglich, da habe ich stets eine Portion Extrapower und lasse einfach alles raus.» Man darf also durchaus hoffen, dass der junge Burgdorfer in Moskau in die Fussstapfen des Vaters tritt – dieser nahm 1984 als Kunstturner an den Spielen in Los Angeles teil.

Schweiz ist dabei

Die Schweiz ist bislang durch die Zürcherin Petra Klingler an der Olympiade vertreten, die bei den Damen die Qualifikation geschafft hat. «Das freut mich enorm für Petra. Es nimmt mir auch ein bisschen Druck weg. So lasten nicht die ganzen Hoffnungen, die Schweiz als alpine Nation an der ersten Kletterolympiade zu vertreten, auf mir», schliesst Sascha das Gespräch, ehe er sich erhebt. Die Pause im Grand Hotel ist zu Ende, das Trainingsprogramm der Rekrutenschule, die er hier absolviert, ruft.

Und wenn es mit Olympia nicht klappen sollte? «Darüber mache ich mir im Moment keine Gedanken. So oder so möchte ich aber Physik studieren, vielleicht im Herbst, vielleicht aber auch erst später. Je nachdem, wie es läuft.»