Weltgeschichte

Kalifornien, das verschwundene Recyclingparadies

Recycling entwickelt sich in Kalifornien zu einem enormen Geschäft – zu Lasten der Verbraucher. Jetzt soll das Pfandsystem erneuert werden.

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Pfandflaschen in einem US-Supermarkt

Die meisten Supermärkte in den USA nehmen Pfandflaschen nicht zurück, weil sie keine Lagerkapazitäten haben.(Foto: imago/Levine-Roberts)

San Francisco. Der Verkäufer an der Kasse des kleinen Lebensmittelladens in Nob Hill in San Francisco nimmt sie nicht an, die leeren Bierdosen und die zwei leeren Flaschen Budweiser. Er wisse gar nicht wohin damit, sagt er. Und er sei außerdem allein im Laden und hinter der Kasse, er könne da nicht weg. Also, Sorry. Ich müsse mein Pfandgeld woanders einsammeln. Nur, wo?

Rund 1,5 Milliarden Dollar vertrauen die Kalifornier treuherzig jedes Jahr ihrer Regierung an als Umwelt-Pfand in der Erwartung, das Geld zurückzubekommen, wenn sie ihr Leergut zurückgeben.

Allerdings: Es wird immer schwieriger für die Bürger, dieses Pfand einzufordern. Von jedem 5-Cents-Stück, das von Käufern von Dosen und Flaschen an der Supermarktkasse zwangsweise einbehalten wird, fließen nur 2,65 Cents, also gut 53 Prozent zurück an die Verbraucher. Die Gewinner sind Einzelhändler, Recyclingfirmen, Müllentsorger, professionelle Sammler, die den Rest unter sich aufteilen.

Und da kommt ganz schön was zusammen. Die Verbraucherorganisation Consumer Watchdog hat in einer mehrmonatigen Untersuchung die Fakten zusammengetragen und die Vorgänge einer gut geölten Geldmaschinerie durchleuchtet.

Im Finanzjahr 2017/18 belief sich demnach der direkte Verlust für Konsumenten, weil sie das Leergut einfach nicht zurückgegeben haben, nur auf 308 Millionen Dollar. Der wahre Schaden liegt aber weit höher, so die Schätzungen.

Über 730 Millionen Dollar versickern jedes Jahr insgesamt in den Tiefen des Recyclingsystems. Das fängt schon bei der Berichtspflicht der Händler vom Tante-Emma-Laden bis zum Discountriesen auf der Wiese an, so das Non-Profit-Unternehmen Container Recycling Institute. Nach den Umsatzstatistiken für die betroffenen Getränkegattungen hätten die nach offiziellen Statistiken vergangenes Jahr zusammen 1,56 Milliarden Dollar an Pfand in Kalifornien einsammeln müssen. Doch berichtet wurden an die Aufsichtsbehörde nur 1,35 Milliarden Dollar. Die ersten 206 Millionen Dollar, die sozusagen sofort in den Büchern und Registrierkassen des Einzelhandels versickern.

Rund 126 Millionen Dollar wandern in die Taschen von Müllentsorgern, die Leergut aus dem Hausmüll herausfischen und für sich abrechnen. Sonstige Sammler, dazu gehören auch die Obdachlosen auf den Straßen, die nachts die herausgestellten Müllcontainer umstürzen und durchwühlen, kommen auf 92 Millionen Dollar.

Warum werfen die Kalifornier über 700 Millionen Dollar buchstäblich in den Müll? Geht es hier allen so gut, dass sie das nicht mehr brauchen? Die Statistiken sprechen eine andere Sprache. Die Mieten explodieren, die Lebenshaltungskosten, Schulgebühren, Versicherungen. Wer nicht in der mondänen Entertainmentwelt in Hollywood oder den lasziven Hightech-Palästen von Cupertino bis Menlo Park im Silicon Valley gut dotierte Jobs hat, hat mächtig zu kämpfen. Da kommt jeder Dollar gerade recht.

Plötzlich fielen die Preise für Recyclingmaterial

Wenn man ihn denn bekommt. Hier scheiden sich die Geister und der Ärger beginnt. In bester kapitalistischer Manier hat Kalifornien die Einnahmen der Pfandgelder staatlich organisiert und dann das Einsammeln der Pfandware überwiegend privaten Unternehmen überlassen. Das ging so lange gut, wie mit dem Recyclinggut Geld zu verdienen war. Die Bürger brachten Flaschen und Container zurück, der Recycler arbeitete Altglas und Aluminium auf und verkaufte es für einen Gewinn weiter.

Doch dann fielen die Preise für Recyclingmaterial ins Bodenlose, China weigerte sich, die Müllhalde Amerikas zu bleiben und schickte Millionen Tonnen unbrauchbarer, weil kontaminierter, „Wertstoffe“ zurück und das Verhängnis nahm seinen Lauf. Seit 2013 haben laut CalRecycle über 40 Prozent aller Rücknahmestationen in Kalifornien, über 1000 Zentren, die Tore geschlossen, sprich sind insolvent geworden.

Um das ins Verhältnis zu setzen: Manche Verbraucher müssten in Kalifornien heute 167 Meilen (268 Kilometer) fahren, um 20 Cents Pfand einzusammeln. In Michigan, wo Einzelhändler ohne wenn und aber verpflichtet sind, Pfandware anzunehmen, sind es dagegen nicht mehr als 15 Meilen (24 Kilometer). Mit anderen Worten: Kalifornien macht es den Verbrauchern oft praktisch unmöglich, ihr Pfandgeld zurückzubekommen.

Hier kommt jetzt Scott Smithline ins Spiel. Der oberste Chef der Behörde California Department of Resources Recycling and Recovery, kurz CalRecycle, wird Ende Dezember seinen Platz räumen, offiziell, um sich mehr der Familie zu widmen. Weitere Kommentare zu dem unerwarteten Weggang, außer Lob für die Arbeit des Scheidenden, gibt es nicht.

Doch Kritiker haben sich zuletzt immer stärker an der schleppenden Reaktion aus Sacramento, Hauptstadt Kaliforniens, auf die Recycling-Apokalypse gerieben. Im August hatte der größte private Recyler des Bundesstaates, RePlanet, alle seine 284 Rücknahmezentren geschlossen und 750 Menschen entlassen hatte. CalRecycle hat Pfandautomaten betrieben, wie ich sie noch von deutschen Penny-Läden und anderen Discountern kenne. Jetzt sind sie im selbsterklärten Recyclingparadies aber praktisch verschwunden.

CalRecycle hatte einfach keine Antwort auf diese Krise. Zumindest der Präsident von Consumer Watchdog, Jamie Court, wagte sich aus der Deckung: Der Abgang von Smithline sei hoffentlich der Beginn einer „Überarbeitung“ des 33 Jahre alten kalifornischen Systems für Flaschenpfand.

Verbraucher werden Pfandflaschen nicht los

Doch so einfach ist das nicht. Die Lobbyisten der Einzelhandelsindustrie haben ganze Arbeit geleistet. Kalifornien ist einer von zwei Bundesstaaten, die Händler nicht verpflichten, Pfandware auch zurückzunehmen. Theoretisch müssen sie es, wenn sich kein Recyclingcenter in der Nähe befindet, sozusagen als „Notanker“. Aber in der Realität steht der Verbraucher mit seinen Pfandflaschen allein da.

Zwei Drittel aller Händler im Großraum Los Angeles hätten etwa in einem Stichprobentest schlicht die Annahme verweigert, obwohl sie gesetzlich dazu verpflichtet waren. Früher gab es eben diese privat geführten Sammelstellen mit den Automaten irgendwo in der Nachbarschaft auf einem alten Brachgelände. Aber die sind alle weg. Und wenn ich meine Dosen nicht mehr loswerde, wird das staatlich angeordnete Pfand schleichend eine zusätzliche Steuer für den Verbraucher.

Der demokratische Abgeordnete Phil Tang aus San Francisco hat jetzt einen Gesetzesentwurf durchgebracht, der den Einzelhändlern viele Monate Zeit geben wird, bis sie sich ihrer gesetzlichen Rücknahmepflicht vielleicht doch noch stellen müssen. Im Silicon Valley verbleiben laut Consumer Recycling Institute deshalb solange rund acht Millionen Verbrauchern gerade einmal 64 Rückgabestellen. Für einen Vollzeit arbeitenden Menschen bleibt wenig Zeit, da hin zu fahren und sich in eine hundert Meter lange Warteschlangen anzustellen.

Was bleibt übrig, als sich in das Schicksal zu fügen und das Leergut wegzuwerfen, damit andere profitieren können. San Francisco plant, ab Januar Sammel-Lkw durch die Stadt zu schicken und bei Einzelhändlern und Privatleuten Pfandgut abzuholen. So sollen die Händler motiviert werden, ihren Kunden wieder ein wenig entgegenzukommen.

Doch wie sollen sie das ohne Infrastruktur machen? Aaron Moreno vom kalifornischen Einzelhändlerverband sagt, die meisten Ladenbesitzer seien schlicht kalt erwischt worden. Sie hätten keine Kapazitäten, könnten nicht Berge von Flaschen oder Dosen zwischenlagern. Die Kunden störten sich an dem „Müll“ im Laden. Ein Übergangsgesetz hat jetzt erst einmal fünf Millionen Dollar bereitgestellt, damit die verbliebenen staatlichen Sammelstellen nicht auch noch zusammenbrechen. Sie müssen jetzt die gesamte Last allein tragen.

Ich habe heute auch wieder Leergut in die Recyclingtonne geworfen, damit andere davon profitieren können. Ein merkwürdiges Gefühl im Silicon Valley, wo doch eigentlich angeblich alle nur dem Wohl der Menschheit verschrieben sind und „User Convenience“ ganz, ganz groß geschrieben und an jeder Ecke eine „Convenience Fee“, eine Bequemlichkeitsabgabe, eingefordert wird, um das Leben, die Gesellschaft und die Umwelt besser zu machen.

Zumindest ist das in den Prospekten der Start-ups so, wenn sie Millionen Dollar von Risikokapitalgebern einfordern wollen. Das liest sich dann so schön heimelig.

Mehr: Lesen Sie auch wie die Recyclingkrise in den USA begann