Ukraine-Gipfel
Der Traum vom Ende des Albtraums
An der Front in der Ost-Ukraine glauben nur wenige, dass der Pariser Gipfel Frieden bringt.
Die Anspannung an der Front imOsten der Ukraine ist mit Händen greifbar. Ein Gewehrschuss zerschneidet die winterkalte Stille dieses nebelverhangenen Tages in der Nähe der Stadt Awdijiwka. Aber die hier stationierten ukrainischen Soldaten machen sich weniger Sorgen um die mal fernen, mal näheren Schüsse aus den Stellungen der prorussischen Rebellen gegenüber als über die diplomatischen Fähigkeiten ihres seit Mai regierenden Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Kurz vor dem Ukraine-Gipfel in Paris am späten Montagnachmittag ist die Hoffnung auf einen baldigen Frieden hier, im Kriegsgebiet, mehr als bescheiden.
Der 41-jährige Mykola ist einer von jenen wenig Hoffnungsvollen in den Schützengräben bei Awdijiwka. In den meisten Armeen wäre er an der äußersten Altersgrenze für den Dienst an vorderster Front. Sein Präsident, ein früherer TV-Komiker, ist so alt wie er. Mykola fürchtet, Selenskyj könnte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu viele Zugeständnisse machen. „Uns abzuziehen wäre, wie auf die Gräber unserer Jungs zu pinkeln“, sagt Mykola. „Sie haben ihr Leben gegeben, damit wir hier sein können.“
Selenskyj und Putin treffen bei dem Gipfel erstmals persönlich aufeinander. Das von Deutschland und Frankreich vermittelte Vierer-Treffen sollte den seit 2014 währenden Kleinkrieg zwischen der Ukraine und den prorussischen Separatisten im Osten des Landes entschärfen. Bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe war noch kein Ergebnis bekannt.
Selenskyj hatte in seinem Wahlkampf eine Beendigung des Konflikts, in dem bereits 13.000 Menschen getötet wurden, zur Priorität seiner Präsidentschaft erklärt. In den vergangenen Monaten verdichteten sich die Anzeichen für Fortschritte im Friedensprozess. So konnten die Kontrahenten sich auf einen Gefangenenaustausch einigen wie auf einen Teilabzug von Truppen aus drei Orten entlang der Frontlinie.
Mykola beeindruckt das kein bisschen. Kiew gehe aus einer „schwachen Position“ heraus in die Gespräche, glaubt er. Den Glauben teilen im Frontabschnitt Awdijiwka nicht wenige. Die 24-jährige Unteroffizierin Faina, die im Industriegebiet Promka bei Awdijiwka stationiert ist, nur sechs Kilometer von Donezk, der Hauptstadt der gleichnamigen Separatistenrepublik, entfernt, blickt dem, was da vom Gipfel in Paris kommen mag, sogar „besorgt“ entgegen: Selenskyj sei doch bloß ein „politischer Neuling“, den seine Verhandlungspartner Emmanuel Macron, Angela Merkel und Wladimir Putin leicht beeinflussen könnten. „Ich habe Angst, dass wir wieder Gebiete verlieren könnten, die wir seit dem Ausbruch des Krieges zurückerobern konnten“, sagt sie. Von der Vermittlung Deutschlands und Frankreichs hält Mykola auch wenig: „Sie werden Druck auf Selenskyj ausüben“, weil Russland für sie wirtschaftlich wichtiger sei.
Im Zentrum Awdijiwkas hat ein australischer Graffitikünstler während eines Besuchs dem Krieg ein Gesicht gegeben: Er hat das Konterfei der 75-jährigen Lehrerin Marina Martschenko fast haushoch an die Seite eines neunstöckigen Plattenbaus gemalt. Martschenko sagt, sie wünsche sich nur, dass der Konflikt ende, „wie auch ein schlimmer Traum irgendwann zu Ende ist“. Denn die Menschen in der Ost-Ukraine seien erschöpft. Für die Haltung der Soldaten hat sie wenig Verständnis. „Ihre Brüder haben ihr Leben gegeben, und nun? Wollen sie weitere Leben opfern?“ Selenskyj traut die Ukrainisch-Lehrerin „genug Grips“ zu, um in und nach Paris die richtigen Entscheidungen zu treffen. „Zugeständnisse beider Seiten“ seien nötig, um den Konflikt zu beenden, sagt sie.
In den Fluren der Schule, an denen Martschenko unterrichtet, hängen unzählige Poster und Zeichnungen, die vom Patriotismus der Schüler zeugen sollen. „Der Frieden muss zu unseren Bedingungen wiederhergestellt werden“, fordert Schuldirektorin Ljudmila Silina. Die Ukraine müsse die Kontrolle über ihre Grenzen wiedererlangen; die russischen Streitkräfte, die nach Ansicht Kiews und westlicher Regierungen die Separatisten unterstützen, müssten abziehen. Doch die Resignation wirkt stärker in Awdijiwka als die Propaganda. Oleksij Bobyr, Manager einer Koksfabrik, in der die meisten Menschen der Region arbeiten, sagt, er höre jede Nacht Schüsse. „Wer garantiert, dass niemand auf mein Haus oder meine Fabrik schießt?“