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Der Hauptort von La Graciosa ist Caleta del Sebo. Er ist auch das einzige ständig bewohnte Dorf. Dahinter beginnt das wilde, steinige Gelände.
(Foto: Mauritius Images / Robert Schneider / Alamy)

Die vergessene Insel

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La Graciosa kann man sich nur in einem kleinen Ausflugsschiff nähern. Es legt mehrmals täglich im Norden der Nachbarinsel Lanzarote ab. Die Fahrt dauert keine halbe Stunde. Schon nach wenigen Minuten taucht die kleine, flache Insel am Horizont auf. Seit elf Millionen Jahren ruht sie im Atlantik. Der ewige Wind hat sie stark erodiert. Nur 266 Meter misst die höchste Erhebung. Die graubraunen, kargen Hügel wirken wie schlafende Elefanten.

Dann wird der einzige ständig bewohnte Ort der Insel sichtbar: Caleta de Sebo. Er ist eine kleine, an der Küste lang gezogene Ansammlung von weißen, niedrigen Häusern. Zwischen den beiden Ortsenden liegen eineinhalb Kilometer, vom Hafen zur hintersten Häuserreihe sind es 300 Meter. Dahinter beginnt unberührtes, steiniges Gelände, bewachsen von graugrünen Sukkulenten und Dornenbüschen, durchkreuzt von ein paar Wegen und Pisten. Zu Fuß braucht man eine knappe Stunde, um an der gegenüberliegenden Küste anzukommen.

So übersichtlich La Graciosa ist, so chaotisch sind die Zustände dort. Denn als die Kanaren 1982 ihr erstes Autonomiestatut verfassten, haben sie die Insel vergessen. In dem Regelwerk ist nur die Rede von den sieben bewohnten Inseln, Teneriffa, Fuerteventura, Gran Canaria, Lanzarote, La Palma, La Gomera und El Hierro, sowie von diversen unbewohnten Inseln, zu denen stillschweigend La Graciosa gezählt wurde. Dabei leben dort Menschen, seit rund 140 Jahren. Es sind fast 700.

Fünf Jahre lang haben die Gracioseros für mehr Eigenverwaltung und Aufmerksamkeit gekämpft. 11 000 Unterschriften haben sie gesammelt, bei sich zu Hause und auf den restlichen Inseln. Im November 2018 konnten sie dann einen ersten wichtigen Erfolg feiern. Das Autonomiestatut wurde geändert, jetzt ist La Graciosa als achte bewohnte Insel erwähnt. "Es war eine kleine Revolution", sagt Miguel Páez, der Initiator, "wir wussten ja nicht, wie es ausgehen würde."

Páez erzählt die Geschichte vom Aufstand der Insulaner in seinem kleinen Laden im Ort, wo er Souvenirs verkauft und Räder verleiht. In Caleta de Sebo spielt sich das Leben ab. Im Osten der Insel liegt noch die kleine Feriensiedlung Pedro Barba, die aber nur im Sommer zum Leben erwacht. Dort gibt es nichts außer ein paar hübschen, niedrigen Häusern mit Kakteengärten und einer ummauerten, geschützten Badebucht. Páez setzt sich für die nur 29 Quadratkilometer große Insel ein.

Und sie ist doch bewohnt!

Er streut Nachrichten aus La Graciosa in den sozialen Netzwerken, organisiert Treffen mit Entscheidungsträgern, hat die Unterschriftensammlung zur Anerkennung als bewohnte Insel vorangetrieben. "Wir hatten ein emotionales, pragmatisches, juristisches und politisches Anliegen", sagt er.

Politisch bedeutet die Anerkennung eine Menge, denn wo Menschen leben, gibt es Bedürfnisse zu befriedigen und Probleme zu lösen: Grundversorgung, Wohnraum, Bildung, Müllwirtschaft, Umweltschutz, Sicherheit. All das haben die Gracioseros bislang unter sich gelöst, mehr oder weniger legal. Oft wussten sie gar nicht, was verboten und was erlaubt war.

Caleta de Sebo gehört zur Gemeinde Teguise, im Inselinneren der Nachbarinsel Lanzarote. Das Meer liegt dazwischen, und die Behördengänge sind hier besonders lang. "Wir haben ein Recht auf Infrastruktur, Investitionen, Mitsprache und Regulierung der ganzen Situation hier", sagt Páez mit kräftiger Stimme. Er ist Schauspieler und Sozialarbeiter und er ist ein Kämpfer. "Zumindest tauchen wir schon mal im Wetterbericht auf", sagt er grinsend.

Die Erwähnung im Statut der Kanaren sei auch eine Anerkennung für die Mühen der Vorfahren, sagt der 46-Jährige. Er gehört zur fünften Generation, mittlerweile gibt es die Gracioseros schon in siebter Generation. Früher lebte man von dem, was die Männer fischten und die Frauen für den Fisch auf Lanzarote eintauschten. Dafür mussten sie, beladen mit frischem Fisch, die 600 Meter hohe Steilküste im Norden Lanzarotes hinaufsteigen.

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Wer auf La Graciosa wandert, hat einen schönen Blick auf die Steilküste von Lanzarote.
(Foto: Mauritius Images / Pictures Colour Library / Alamy)

Sie ragt wie eine Wand in den Himmel und ist die nächstgelegene Küste Lanzarotes. Dazu aßen sie das, was die trockenen, steinigen Felder abwarfen, vor allem Gerste. "Wir waren hier immer arm", sagt Páez, und trotzdem habe er auf La Graciosa "eine sehr glückliche Kindheit" verbracht.

Er gehört zu jenem knappen Dutzend Familien, deren Vorfahren in den 1880er-Jahren von Lanzarote nach La Graciosa ausgewandert sind, um vom Fischreichtum dort zu leben. Ihre Flotte fuhr bis vor die Küste der Sahara. Páez zählt die Familien aus dem Stegreif auf: "Die Romeros, die Toledos, die Morales, die Betancorts, die Páez ... Wir kennen uns alle."

Traum vom eigenen Rathaus

Und die namentliche Erwähnung in der Regionalverfassung zeichnet auch die Bereitschaft der heutigen Insulaner aus, sich auf die neuen Lebensbedingungen einzustellen. Die sind heute nicht mehr vom Fischfang, sondern vom Tourismus geprägt. Auf La Graciosa kann man Rad fahren, wandern, eine Jeep-Safari buchen, sich an den Strand legen, angeln, tauchen oder einfach nur im Café am Hafen sitzen und dem Treiben zusehen.

Ein Jahr nach dem Erfolg gibt es erste politische Resultate: Die Regionalregierung hat einen Ombudsmann auf die Insel geschickt, der einen direkten Draht herstellen soll. Demnächst soll Caleta de Sebo als eigener Ortsteil von Teguise anerkannt werden, mit Budget und Ortsvorsteher. "Vielleicht bekommen wir mal ein eigenes Rathaus", sagt Miguel Páez, "aber wir wollen nichts überstürzen."

Und der Ort soll ein Polizeikommissariat bekommen, denn die Zeiten, in denen man hier bei offener Haustür schlafen konnte, sind vorbei. Der Aufruhr um den Status als achte Insel hat auch viele Touristen und auswärtige Saisonarbeiter gebracht.

Und die Einheimischen wollen das Auto-Problem lösen.