Streiktradition in Frankreich

«Hier muss man zuerst streiken, bevor es Gespräche gibt»

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Streiken ist in Frankreich schon fast ein Kulturgut. Entsprechend ist der Arbeitskampf in der politischen Auseinandersetzung akzeptiert, wie Nino Galetti von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris weiss.

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Nino Galetti

Nino Galetti ist Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris. Die Stiftung steht der deutschen CDU nahe.

SRF News: Weshalb wird in Frankreich so oft gestreikt?

Nino Galetti: In der Schweiz oder in Deutschland setzen sich Arbeitgeber und Arbeitnehmer im Fall von nötigen Reformen zusammen an einen Tisch und verhandeln. Wenn es dort nicht weitergeht, wird demonstriert oder allenfalls gestreikt. In Frankreich ist es umgekehrt: Hier muss man zuerst streiken und demonstrieren, um die eigene Stärke zeigen, bevor man von der Regierung zu Gesprächen eingeladen wird.

Der Inhalt der Rentenreform ist noch gar nicht im Detail bekannt, trotzdem geht man schon auf die Strasse?

Derzeit ist ein Kräftemessen zwischen Reformern und Bewahrern – Regierung und Angestellten – im Gang. Für die Gewerkschaften ist dabei das Wichtigste, möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Sehr eindrucksvoll gelang ihnen das am vergangenen Donnerstag, als landesweit 800'000 Personen demonstrierten. Auch, dass die Lokführer ihren Streik weiterziehen, zeigt die Stärke der Gewerkschaften.

Ende des Streiks nicht abzusehen
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Die Streiks gegen Macrons Rentenreform gehen vorerst weiter. Auch am Montag muss beim öffentlichen Verkehr mit massiven Einschränkungen gerechnet werden. Laut SBB ist der Bahnverkehr mit und in Frankreich stark eingeschränkt.

Der Druck der Strasse zeigt indessen Wirkung: Heute sind Gewerkschaftsvertreter bei Sozialministerin Agnès Buzyn eingeladen, um ihre konkreten Forderungen vorzutragen. Am Mittwoch will die Regierung dann ihre detaillierten Pläne der Reform vorstellen – nachdem die Anliegen der Gegenseite zur Kenntnis genommen worden sind.

Die Gewerkschaften sprachen am Donnerstag von einem Generalstreik. Ist diese Bezeichnung korrekt?

Nein, das ist übertrieben. Die Privatwirtschaft hat weiter funktioniert, Restaurants, Einkaufsläden oder Kinos waren normal geöffnet. Bestreikt wurden die öffentlichen Dienste wie Schulen, Kehrichtabfuhr, Spitäler sowie die Bahn SNCF und die Nahverkehrsbetriebe in grösseren Städten.

Das Signal kommt bei der Regierung an.

Die Gewerkschaften setzen die Streiks sehr gezielt ein. Sie wissen ganz genau, dass sich ein Streik der Metro in Paris auf ganz Frankreich auswirkt. Dieses Signal kommt bei der Regierung an – und darauf kommt es ihnen schliesslich auch an.

Welche Gründe für die etablierte Streikkultur in Frankreich gibt es neben der Machtdemonstration gegenüber der Regierung sonst noch?

Die Französinnen und Franzosen sind ein südeuropäisches Volk, das lateinisch geprägt ist. Wenn sie demonstrieren, geschieht das etwas leidenschaftlicher als bei den nördlichen Völkern – das gehört in Frankreich ganz einfach dazu. Schliesslich lernt jeder Schüler, dass es der Sturm auf die Bastille war, der Frankreich in die Moderne geführt hat.

Regierung und Gewerkschaften wurden von den ‹Gilets jaunes› auf dem falschen Fuss erwischt.

Wie unterscheiden sich die Proteste der Gelbwesten, die vor rund einem Jahr in Frankreich begannen, von den üblichen Streiks?

Speziell an den «Gilets jaunes» war, dass eine Protestbewegung ohne Führung, Struktur und Programm eine solche Durchschlagskraft entwickeln konnte. Nicht nur die Regierung, auch die Gewerkschaften wurden dabei auf dem falschen Fuss erwischt.

Nerven sich die Franzosen nicht, wenn sie tagelang nicht auf den öffentlichen Verkehr zählen können?

Vor allem die Leute in Paris schaffen es jeweils recht gut, sich den Streiks anzupassen. Sie organisieren sich in Fahrgemeinschaften, übernachten bei Freunden oder kaufen sich ein Fahrrad. So stieg die Zahl der verkauften Fahrräder während des grossen, dreiwöchigen Streiks von 1995 sprunghaft an. Paris sei damals zu einer Velofahrer-Stadt geworden, sagen manche.

Das Gespräch führte Marc Allemann.