Dieser No-Name-Konzern mit Top-Marken ist ein echter Börsenstar
VF Corporation ist ein „hidden Champion“: Kaum jemand kennt das Unternehmen, dabei vereint es Marken wie Vans, Timberland, North Face oder Eastpak unter seinem Dach. Europa soll von der Schweiz aus erobert werden – eine Wahl, die nicht zufällig fiel.
Martino Scabbia Guerrini ist einer jener polyglotten Italiener, die im Lauf ihrer Karriere in der angelsächsischen Konzernwelt die Espresso-Gemütlichkeit abgelegt, ihren Charme aber glücklicherweise behalten haben. Sein Büro, mit Pult und von Büchern übersätem Konferenztisch randvoll befüllt, kann jeder ohne Überwindung eines Vorzimmers betreten. Die Glastür wird er eine Stunde später schließen, wenn die Konzernleitung per Videokonferenz tagt. Ansonsten steht sie meist offen.
Davor wuseln junge Leute durch die Gänge, treffen sich an Kaffeetheken, sitzen in den offenen Stockwerken still vor ihren Computern, hinter sich lange Stangen mit Stoffteilen und Musterkleidung, andere packen Werbemittel in Kartons oder spannen Textilproben in Labormaschinen ein, um Reißfestigkeit und Wasserdichtigkeit zu prüfen. In der Halle im Erdgeschoss lauschen mehr als 100 Leute einer Schulung, um sie herum Ladengeschäfte, die nichts zu verkaufen haben. Sie sollen den Mitarbeitern das passende Ambiente der Firmenbrands, deren „Markenwelt“, in Fleisch und Blut übergehen lassen.
Der topmoderne Glasbau, in dem rund 900 Menschen arbeiten, residiert etwas versteckt in einem Tessiner Industriegebiet. Für den börsennotierten US-Multi VF Corporation, zu Hause in Denver, Colorado, ist dieses Gebäude im beschaulichen Stabio das Hauptquartier der Weltregion Europa, Guerrini hier der charmante Chef. In anderen Firmen müsse man sich um Termine bewerben, um jemanden wie ihn zu sprechen, lächelt Guerrini, der 2006 zu VF stieß, nachdem er für Luxusbrands wie Tod’s oder Stone Island gearbeitet hatte.
„Hier hingegen treffe ich beim Lunch öfter mal auf die 20-Jährigen unter unseren Mitarbeitern, und jeder, auch wenn er erst sechs Monate bei uns ist, kann über alle Themen mit mir sprechen – und ich höre zu und lerne.“ Ein Traum amerikanischer Firmenkultur, angekommen im Tessin. Die Nähe zur Modemetropole Mailand, jedoch mit Schweizer Stabilität gesegnet, und Stabios mildes Steuerklima lockten diverse Textilschaffende an. Auch Zegna und Zimmerli sind in der Gegend vertreten.
Ein Portfolio von 20 Marken, zehn davon in Europa aktiv
Problemlos könnte VF ein eigenes Kaufhaus mit ihren Brands ausstaffieren. Joggingschuhe von Altra, ikonische Segelschuhe von Timberland, Streetwear-Chic von Vans, Outdoorkleider von The North Face, wärmende Unterteile von Icebreaker, Parkas von Napapijri, Taschen und Rucksäcke von Jansport oder Eastpak, straßentaugliche Arbeitskleidung von Dickies, Sicherheitsschuhe für die Wälder Kanadas von Kodiak, amerikanische Polizeiuniformen von Horace Small, Overalls für Ölförderer von Bulwark – alles VF.
Mit einem Portfolio von rund 20 Marken, zehn davon in Europa aktiv, setzte VF im jüngsten Geschäftsjahr 11,2 Milliarden Dollar um. Hinzurechnen muss man weitere 2,7 Milliarden aus der Jeanssparte, die vor allem aus den Hauptmarken Lee und Wrangler besteht – sie wurde unter dem Namen Kontoor abgespalten und an die Aktionäre weitergereicht. Die Margen sind in beiden Bereichen derart bekömmlich, dass der Jahresgewinn unterm Strich mehr als ein Zehntel des Umsatzes beträgt.
Besonders eindrucksvoll wirkt jedoch das Wachstumstempo der jüngeren Vergangenheit, getrieben von der Skateboarder-Marke Vans. „Als wir Vans 2004 kauften, war sie etwa so groß wie Napapijri heute“, sagt Guerrini; das sind 260 Millionen Dollar Umsatz. Heute dürfte Vans bei vier Milliarden Dollar angekommen sein. Und „als wir 2000 The North Face kauften, war sie etwa so groß wie Icebreaker heute“, also 175 Millionen Dollar – die sich inzwischen auf 2,6 Milliarden Dollar ausgeweitet haben. Timberland schließlich spielt knapp zwei Milliarden ein, wächst von den internationalen Blockbuster-Marken am langsamsten, aber wächst eben immer noch.
Und so brauchte es vor zwei Monaten einen außerplanmäßigen Investorentag in Boulder, Colorado: erstens, weil die im Jahr 2017 ausgerufenen Ziele schon erreicht waren, und zweitens, weil die Aktionäre wissen wollten, wie es weitergehen würde nach der Abspaltung des Jeans-Business. Es lieferte zwar „stabile Ergebnisse mit guten Dividenden“, sagt Guerrini, aber man hatte eben „zwei Welten“ im Konzern, weil das Geschäft mit Outdoor- und Lifestyle-Marken „zwar höhere Kapitalinvestments nach sich zieht, aber auch viel höhere Wachstumschancen“.
Ein Blick auf die Marktgröße zeigt die Unterschiede. Der globale Jeansmarkt stagniert, umfasst rund 101 Milliarden Dollar. Das verbleibende Geschäft bei VF, am besten mit den Schlagworten Outdoor, Aktiv- und Arbeitskleidung beschrieben, agiert hingegen in einem fünf Mal größeren Segment. Darauf konzentriere sich VF nun, sagt Guerrini, zumal sich funktionale Kleidung immer stärker Richtung Lifestyle aufwertet; urbanes Jungvolk trägt solche Teile in Job und Freizeit. Der Markt wird also wachsen – er bewegt sich quasi auf die VF-Brands zu.
Doch dasselbe ließe sich auch über Marken wie Jack Wolfskin oder Schöffel sagen – die ähnliche Kundengruppen wie The North Face ansprechen, allerdings seit Jahren vor sich hin schwächeln. Dass VF mit Funktionskleidung Furore macht, muss also andere Ursachen haben als wachsende Märkte.
Zwei Branchenexperten beschreiben es so: VF sei eine „Übernahme- und Integrationsmaschine“, die vor allem das Management hinter der Markenoberfläche perfektioniert habe. Martino Guerrini sagt, bei Finanzmanagement, Einkauf oder Logistik sei VF immer schon gut gewesen, das Unternehmen sei aber wie viele Kleidungshersteller zu sehr auf den Großhandel fixiert. In den zurückliegenden fünf Jahren jedoch „haben wir gelernt, vom Kunden her und wie ein Retailer zu denken, der mit seinen Konsumenten direkt in Kontakt tritt“.
Soll heißen: Design und Brand Building bedeuten nicht mehr nur Kleidung zu entwerfen. Sondern Markenwelten mit Stores, Begleitmedien, Kommunikation auf sozialen Medien und Events; The North Face etwa bittet in Europas Metropolen unter dem Motto „never stop“ zum Gemeinschaftssporteln. Vans führt eine Harry-Potter-Kollektion im Sortiment. VF setze deshalb immer stärker auf eigene Stores und digitale Verkaufskanäle. Schwächere Handelspartner, heißt es in der Branche, würden vom Konzern tendenziell ausgesiebt.
Wichtigster Erfolgsfaktor dürfte das straffe, zentralisierte Führungsmodell sein; die Brands werden an der kurzen Leine geführt. Die Hälfte aller Mitarbeiter, sagt Guerrini, „arbeiten nicht für einen Brand, sondern für eine Konzernfunktion“. Vier Group Presidents, einer davon Guerrini, halten in den Großregionen wie EMEA und Asien-Pazifik die Zügel in der Hand, leiten aber auch Brands auf globaler Basis, im Fall Guerrini sind es unter anderem Timberland und Napapijri. Vorgaben von CEO Steve Rendle und Finanzchef Scott Roe folgend, arbeiten diese vier, sagt Guerrini, „zu einem gewissen Grad als Unternehmer im Unternehmen, und wir stimmen uns stark untereinander ab“.
Die Regionen fungieren als eigentliche Zentren in punkto Marktbearbeitung, ähnlich wie beim globalen Nahrungsmittelriesen Nestlé. Der Vorteil darin liege in der breiteren Perspektive für Businessmöglichkeiten mit dem Einbezug des ganzen Portfolios: Reine Brand-Manager, sagt Guerrini, „tendieren zu Insellösungen“. Zur folkloristischen Stärkung der Eintracht im Reich hat sich VF neuerdings einen konzernweiten „Purpose“ zugelegt: Man „powert nachhaltige und aktive Lebensstile, zur Verbesserung der Menschen und des Planeten“.
Recht leidenschaftslos dagegen konzentriert sich VF auf seine erfolgreichen Milliardenbrands, hat zuletzt das Markenportfolio kräftig umgeschichtet. In den letzten drei Jahren akquirierte VF den Arbeitskleidungsriesen Williamson-Dickie, die Schuhmarke Altra und den Wäschebrand Icebreaker, stieß dafür die Modebrands 7 For All Mankind und Nautica ab, zudem das Jeansgeschäft.
Die VF-Aktie verfünffachte sich binnen zehn Jahren
Gestartet war die heutige Strategie mit den Käufen von The North Face und Eastpak im Jahr 2000, gefolgt von Vans und Napapijri 2004, Timberland und Smartwool kamen 2011 an. Die namensgebende Wäschemarke Vanity Fair (VF) hatte schon 2007 den Konzern verlassen. Sie wanderte zum Markenmulti Fruit of the Loom.
Wie viel Wachstum noch darinliegt, zeigt ein Blick auf die inzwischen stärkste Marke, Vans. Sie soll in Europa künftig jährlich „im hohen einstelligen Bereich“ zulegen, sagt Guerrini. Global verspricht VF ein Wachstum auf sechs Milliarden Dollar Umsatz bis 2024, was ein jährliches Wachstum von zwölf bis 13 Prozent bedeutet – eine defensive Prognose; tatsächlich erreicht wurde zuletzt das Doppelte. Die VF-Aktie verfünffachte sich sogar innerhalb eines Jahrzehnts – nicht schlecht für einen Hersteller von Funktionskleidung.
Zwar sind stärker modeorientierte Sportfirmen wie Adidas oder Nike besser gelaufen, genau wie Luxuskonglomerate à la Kering oder LVMH, aber Mehrmarkenhäuser klassischer Konsumgüter wie ColgatePalmolive oder Reckitt Benckiser fallen an der Börse genauso hinter VF zurück wie Schwedens Kleiderriese H&M und sogar Zara-Mutter Inditex. Auch die am ehesten vergleichbare Holding PVH mit ihren zwei Großmarken Tommy Hilfiger und Calvin Klein kann an der Börse nicht mithalten.
Guerrini arbeitet bereits am nächsten Megatrend: Nachhaltigkeit und Natur. Als Speerspitzen im Markt sollen die Brands Smartwool und Icebreaker dienen, ersterer sportlich, letzterer modisch ausgerichtet. Beide verkaufen Teile aus Merinowolle, Guerrini nennt es „natural performance material“ – elastischer als Synthetik, frischer im Sommer und wärmer im Winter, zudem höchst widerstandsfähig. Der Italiener ist sicher: Der Trend zur Natur, in Ernährung und Kosmetik schon greifbar, wird auch in der Bekleidung ankommen: „Vielen Menschen ist heute noch gar nicht bewusst, dass sie Plastikflaschen auf der Haut tragen.“
Da möchte VF natürlich der Menschheit auf den Weg zum Besseren verhelfen. Icebreaker, Smartwool und Napapijri, gemeinsam rund 600 Millionen Umsatz schwer, sagt Guerrini und lächelt entwaffnend, sollen bald eine Milliarde auf die Waage bringen.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen unter dem Titel „The Real Kings of Clothes“ im Schweizer Wirtschaftsmagazin „Bilanz“.
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