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Das Lager Vucjak befindet sich mitten im Nirgendwo - rund um das Camp gibt es verminte Gebiete, erklärt Gastautor Erik Marquardt.© REUTERS
Gastbeitrag

Polizisten schießen auf Geflüchtete - Kinder erfrieren: Die Wirklichkeit an den Grenzen der EU

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Polizisten schießen auf Geflüchtete, die Menschen frieren in Lagern. So sieht die Wirklichkeit an Europas Grenzen aus. Was tut die EU? Der Gastbeitrag.

In einigen Stunden kann man an die EU-Außengrenze reisen und Menschen sehen, die sich in Lebensgefahr befinden, weil sie nicht vor dem drohenden Winter geschützt sind. Auf einer alten Müllkippe in der Region Bihac (Bosnien-Herzegowina) werden derzeit Hunderte Menschen eingepfercht. Das Lager Vucjak befindet sich mitten im Nirgendwo und doch direkt an der Grenze zur Europäischen Union. Die Menschen werden von der Polizei wie Vieh auf dem Berg zum Camp getrieben, wenn sie versuchen, in die Stadt zu kommen. Es ist kalt, und an einer Wand hängt eine Karte mit den verminten Gebieten um das Camp herum.

Ziel der Geflüchteten - Kroatien

Alle wissen, dass die meisten hier nicht auf Dauer bleiben können. Entweder man verharrt in Lebensgefahr oder man versucht, sich irgendwie nach Kroatien durchzuschlagen. In viel zu kleinen Zelten sind viel zu viele Männer zusammengepfercht. Selbst das Wasser wurde inzwischen dort abgestellt. Das Rote Kreuz verteilt kleine Lunchpakete, aber die reichen nicht für alle.

„The Game“ wird der Versuch genannt, unentdeckt nach und durch Kroatien zu kommen. Denn wer entdeckt wird, den erwartet kein rechtsstaatliches Verfahren, sondern die Gewalt der kroatischen Grenzbeamten.

Obwohl Minderjährige einen besonderen Schutz genießen, werden auch Kinder in Vucjak eingeschlossen. Ein elfjähriger Junge erzählt, dass er mit Gewalt von der kroatischen Grenzpolizei nach Bosnien-Herzegowina zurückgebracht worden sei. Was sollen wir diesem elfjährigen Kind über die Wertegemeinschaft EU sagen?

Junge Geflüchtete werden sterben

Junge Schutzsuchende werden sterben, als Kollateralschaden kollektiver Verantwortungslosigkeit. Das klingt bitter, ist aber Realität. Die Asylpolitik in Europa folgt einem einfachen Ziel: Steigt die Zahl der Ankünfte, ist es ein Alarmsignal. Sinkt sie, ist das ein Erfolg.

Um dieses Ziel zu erreichen, möchte man abschrecken – anders ist es nicht zu erklären, dass auch im vierten Winter in Folge Kinder in unbeheizten Zelten überwintern und dass im Mittelmeer, trotz Tausender Toter, kein einziges staatliches Rettungsschiff mehr ist. Hauptsache, die Außengrenzen sind unwürdiger als der Ort, aus dem man floh – dann bleibt man lieber dort.

Wer die Bilder von überfüllten Lagern mit Menschen im Schlamm vor Augen hat, dem fällt es schwer, den technokratischen Diskussionen zur Bekämpfung von Anreizen zur Sekundärmigration zu folgen, die momentan in Berlin, Brüssel oder Paris geführt werden.

EU-Außengrenze - Schusswaffengebrauch ist üblich

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Erik Marquardt ist migrationspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament. Davor arbeitete er als Fotograf und nahm an Rettungseinsätzen im Mittelmeer teil.

Als eine rechte Politikerin im Januar 2016 forderte, die Einreise von Frauen und Kindern notfalls auch mit Waffengewalt zu verhindern, war die Empörung zu Recht groß. Doch an der EU-Außengrenze ist der Gebrauch von Schusswaffen inzwischen zur Normalität geworden. Am 16. November wurde ein junger Migrant von der kroatischen Polizei an Bauch und Schultern angeschossen und dabei lebensgefährlich verletzt. Die Ärzte im Krankenhaus von Rijeka konnten sein Leben dank einer Notoperation wohl retten, wahrscheinlich kann er aber nie wieder laufen.

Der Polizist behauptet, den Schuss aus Versehen abgefeuert zu haben. Das kroatische Innenministerium sagt, es handele sich um einen isolierten Einzelfall. Recherchen der Organisation Border Violence Monitoring weisen allerdings darauf hin, dass der Schusswaffengebrauch inzwischen gang und gäbe ist. Die NGO dokumentierte auf dem Balkan 63 Fälle, in denen Polizisten bei Zurückweisungen ihre Waffe abgefeuert haben.

Ein Betroffener berichtet der NGO: „Sie haben auf uns geschossen. Nicht in die Luft, sondern links und rechts von unseren Körpern.“ Es gibt zu viele dieser Berichte, um von Einzelfällen zu sprechen. Die EU-Mitgliedsstaaten kaufen sich sinkende Ankunftszahlen mit Gewalt und Missachtung des eigenen Rechts.

Gewalt an den EU-Außengrenzen

Im EU-Parlament diskutieren wir derweil den Schengen-Beitritt Kroatiens. Laut EU-Kommission erfüllt Kroatien die Voraussetzungen. Obwohl Menschen mit einer anderen Hautfarbe an den Außengrenzen kein rechtsstaatliches Verfahren, sondern Gewalt erwartet, scheint alles in Ordnung zu sein. Dabei müssen für einen Schengen-Beitritt alle Artikel des „Schengen-Border-Codes“ erfüllt sein – auch Artikel 4, der Grundrechte sichern und illegale Abschiebungen verhindern soll.

Hier lesen Sie über die Abschiebungen nach Afghanistan

Wer versucht, die infame Situation an der Grenze im Parlament anzusprechen, trifft auf Diplomatensprache in einer Parallelrealität. Keine europäische Regierung mag der Gewalt auf den Grund gehen, und auch die EU-Kommission fordert Kroatien nicht auf, die Pushbacks zu unterlassen.

Die Herausforderung von Migration

Es ist offensichtlich: Man will den Menschen ihre grundlegenden Rechte nehmen und ist bereit, sie zu misshandeln. Wer solche Politik duldet, wird keine würdigen Antworten auf die Herausforderung von Migration im 21. Jahrhundert finden. Er zeigt nur, dass er nicht einmal danach sucht.

Erik Marquardt ist migrationspolitischer Sprecher der Grünen im Europaparlament. Davor arbeitete er als Fotograf und nahm an Rettungseinsätzen im Mittelmeer teil.