Soziologe Wolfgang Hammer: Weil Beziehung zu eng ist: Jugendamt nimmt alleinerziehenden Müttern die Kinder weg
by FOCUS OnlineScheinbar grundlos werden Mutter und Kind voneinander getrennt. Das Jugendamt greift ein und steckt das Kind in ein Heim. Mehr als 42 Familien sind in Deutschland davon betroffen. Jetzt hat ein Soziologe diese Fälle untersucht. Seine Entdeckungen machen sprachlos.
Wolfgang Hammer ist Soziologe, Experte im Jugendhilfewesen und war Koordinator der Bundesländer für den Bereich Kinder- und Jugendpolitik. Als Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats beim Deutschen Kinderhilfswerk (DKHW) begleitet er das Forschungsprojekt "Umsetzung der UN - Kinderrechtskonvention in Deutschland". Seit 2013 ist er freiberuflich und ehrenamtlich tätig und seither erzählen ihm Betroffene, Anwälte und auch Jugendamtmitarbeiter immer häufiger von zweifelhaften Fällen von Inobhutnahme. Mütter und Kinder würden voneinander getrennt, gegen ihren Willen und ohne Begründung einer unmittelbar drohenden Kindeswohlgefährdung.
Sie alle hoffen, dass Hammer ihre Fälle untersucht, die Probleme aufzeigt, sie öffentlich macht - und Einfluss auf die Rahmenbedingungen nimmt. In Jugendamt und Politik haben sie kaum noch Vertrauen, auch die Medien wollten bisher nicht über ihre Fälle berichten. Bei Hammer hingegen haben sie Erfolg.
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Wegen Bemutterung ins Kinderheim?
Der Soziologe wählt aus den 167 Fällen 42 Stück aus, die er in einer Fallstudie näher beleuchten möchte. Denn bei diesen hat er Einblick in alle wichtigen Unterlagen: hilfebegründete Berichte, Hilfeplan-Protokolle, begleitende Korrespondenz der Jugendämter mit den Betroffenen und den Gerichten, Gutachten sowie Gerichtsbeschlüsse.
Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen den 42 Fällen. Alle Betroffenen sind alleinerziehend und weiblich, darunter 39 Mütter und drei Großmütter. Ihnen allen wurde ihr einziges Kind weggenommen - und das nur, weil angeblich die Mutter-Kind-Beziehung zu eng war.
Wegen Bemutterung ins Heim, wie konnte das durchgehen?
Jugendämter sind per Sozialgesetzbuch (SGB) unter bestimmten Bedingungen berechtigt und verpflichtet, Kinder und Jugendliche in Obhut zu nehmen. Etwa, "wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen besteht und a) die Personensorgeberechtigten nicht widersprechen oder b) eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann." Das legt § 42 des SGB VIII fest.
Eine "dringende Gefahr für das Wohl des Kindes" bestand jedoch in keinem der 42 Fälle, die Hammer untersucht hatte. Im Gegenteil: "Es gab in keinem Fall vorher Meldungen an das Jugendamt durch Dritte mit Hinweisen auf eine Kindeswohlgefährdung", hält der Soziologe in seiner Studie fest.
Mütter wandten sich hilfesuchend ans Jugendamt - das nahm ihnen ihre Kinder weg
Alle Mütter hatten sich freiwillig an das Jugendamt gewandt - entweder mit der Bitte um Unterstützung bei Unterhaltsforderungen bzw. Transferleistungen (Kindergeld, Wohnungsgeld) oder bei Ferien mit dem Kind, Mutter-Kind-Kuren, Kosten von Schulausflügen, Nachhilfe, Schulbedarf und ähnlichem. "Keine der Mütter äußerte, dass sie mit der Erziehung ihres Kindes so überfordert sei, dass sie sich nicht mehr in der Lage sah, ihr Kind zu erziehen und zu versorgen."
Statt den Müttern zu helfen, unterstellten die Jugendämter eine zu enge oder zu belastete Mutter-Kind-Beziehung und legten 31 Müttern eine ambulante Erziehungshilfe nah und trennten die Familien schließlich in allen Fällen voneinander. Alles, ohne ein psychologisches Gutachten, das den Verdacht auf eine symbiotische Mutter-Kind-Beziehung bestätigt hätte. Diese wurden erst nach der Inobhutnahme in Auftrag gegeben. Die Frauen müssen sich wie vor den Kopf gestoßen gefühlt haben.
Erschreckend: In einigen Fällen äußerten sich Erziehungsberatungsstellen gegen eine Trennung - die Jugendämter jedoch entschieden darüber hinweg. Vielmehr stützten sie ihre Begründung auf Hausbesuche und Einschätzungen Dritter, also von Nachbarn, Ex-Partnern und Großeltern. Letztere belasteten die betroffenen Mütter stark.
"Eine symbiotische Mutter-Kind-Beziehung ist selten"
Es ist möglich, dass zwischen Mutter und Kind eine derart enge Beziehung besteht, dass sie als kindeswohlgefährdend eingestuft werden kann. Man nennt dies eine symbiotische Beziehung.
"Wir sprechen von einer Symbiose, wenn zwei Menschen so ungetrennt sind, dass keine eigenen Gefühle, keine eigenen Haltungen oder Stellungnahmen mehr möglich sind", erklärt Kinderpsychiater Michael Schulte-Markwort im FOCUS Online-Interview. "Eine symbiotische Beziehung geht in der Regel von den Eltern aus, die es nicht ertragen, wenn ihr Kind autonomer wird. Es gibt aber auch sehr ängstliche Kinder, manchmal auch von Anbeginn an, die sehr engen Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen."
Bei einer symbiotischen Beziehung isoliert der Elternteil das Kind derart vom äußeren Umfeld, dass es Rückschritte macht, zum Beispiel in der Entwicklung. Auch psychosomatische Krankheiten können Folge von einer symbiotischen Beziehung sein. "Wenn es nicht zu einer autonomen Entwicklung des Kindes kommt, entwickelt das Kind erhebliche Trennungsängste, kann nicht mehr zur Schule gehen, will komplett zuhause bleiben, mitunter auch ein Leben lang. Zu enge Beziehungen sind entwicklungshemmend", sagt Schulte-Markwort.
Ob eine Mutter-Kind-Beziehung einfach nur eng oder schon symbiotisch ist, ist ein himmelweiter Unterschied. Der Kinderpsychiater betont: "Eine wirklich symbiotische Beziehung wird man selten finden."
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Trennung für die Kinder sehr traumatisierend
Bei den 42 Kindern aus Hammers Studie hätten sich Auffälligkeiten nach außen hin zeigen müssen. Dass dem jedoch nicht so war, bestätigten in 32 Fällen die Schulen. Kein Kind wies gravierende Leistungsrückstände auf oder war versetzungsgefährdet. Ein Kind, das Hammer in seiner Studie Karl nennt, war nach Aussage der Schule sogar "ein lebensfroher, leistungsstarker Schüler". Trotzdem entschied sich das Jugendamt für eine Trennung von der Mutter und die Unterbringung im Heim.
Die Jugendämter mögen augenscheinlich im Interesse der Kinder gehandelt haben - doch es sind die Kinder, die den größten Schaden davon tragen. Wesensveränderungen, aggressives Verhalten, Essstörungen, sogar Selbstmorddrohungen waren bei den Betroffenen keine Seltenheit.
"Von außen kommende Trennungen sind immer gewaltsam", erklärt Schulte-Markwort. "Wenn ein Kind tatsächlich symbiotisch ist, dann wird die Trennung extreme Angst auslösen. Das sollte man nie ohne intensive Vorbereitung und Begleitung machen. Das ist sonst sehr traumatisierend."
Verhalten der Kinder änderte sich - zum Negativen
In einem Bericht des Heimes an das Jugendamt über den 12-jährigen Karl heißt es: "Karl ist unaufmerksam und bisweilen rebellisch und musste schon mehrmals vom Unterricht ausgeschlossen werden. Auffällig ist zudem eine erhebliche Gewichtszunahme (10 kg in sechs Wochen)." Diese Wesensveränderung hätte zu denken geben müssen, stattdessen rieten Heim und Jugendamt zu einer Kontaktsperre zur Mutter. Er solle so die Chance erhalten, "sein Leben ohne den negativen Einfluss der Mutter neu zu ordnen."
Die Familiengerichte hingegen erkannten sehr wohl, dass hier etwas nicht stimmte. Zudem warfen die nach der Inobhutnahme erstellten psychologischen Gutachten ein ganz anderes Licht auf die Familienverhältnisse. Entsprechend wurde bei fast allen Fällen gerichtlich verordnet, Kinder und Mütter wieder zu vereinen.
Obwohl im Nachhinein gravierende sachliche und fachliche Fehler sowie Falschbehauptungen aufgedeckt wurden, gab es seitens der Jugendämter keine Entschuldigung. In sieben Fällen kündigten die Jugendämter laut der Studie sogar an, die Familien weiterhin im Blick zu behalten. Eine Drohung, finden die Betroffenen.
Wenn man die 42 Fälle betrachtet, fragt man sich unweigerlich, warum denn ausschließlich Alleinerziehende betroffen sind. "Ich kann mir vorstellen, dass es die Tendenz gibt, alleinerziehenden Müttern eine große Nähe zu unterstellen", sagt Schulte-Markwort.
Kinderwille zählte nicht
Wird das Kind von den Eltern getrennt, hat das Familiengericht dem Kind oder Jugendlichen grundsätzlich einen geeigneten Verfahrensbeistand zu bestellen. So steht es unter § 158 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG).
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Ein solcher Verfahrensbeistand soll das Interesse des Kindes feststellen und vor Gericht vorbringen. Zwar ist dem FamFG zufolge der Kinderwille nicht ausschlaggebend für eine Entscheidung. Doch ihn anzuhören und zu berücksichtigen, ist er in jedem Fall. Zudem hat er besonderes Gewicht.
Gebracht hat es den Betroffenen von Hammers Studie jedoch nichts. Weder persönliche Gespräche noch Briefe vonseiten der Minderjährigen an ihren Zuständigen stießen auf Einsicht.
Denn die Wünsche der Kinder, zurück zur Mutter zu ziehen, wurden vom Jugendamt als "Zeichen einer krankhaften Mutter-Kind-Beziehung interpretiert". Hammer schreibt: "Eine relevante Mitwirkung der Kinder fand mit dieser Begründung noch nicht einmal formal statt. Die Willensäusserung der Kinder wurde durch eine Stellungnahme der Heime und/oder fallführenden Fachkraft ersetzt und so in die Protokolle der Hilfeplanung aufgenommen."
Kinder tragen erheblichem Schaden davon
Hammers Fallstudie ist nicht repräsentativ, doch sie ist alarmierend. Denn sie zeigt ein Muster auf, das es in Deutschland so eigentlich nicht geben darf: Jugendämter trennen Mütter und Kinder aus Angst, zu spät einzugreifen und die Konsequenzen tragen zu müssen. Warum? Berichte über Kinder, die ums Leben kommen, weil das Jugendamt sie nicht rechtzeitig aus ihrer Familie befreit hat, gelangen immer an die Öffentlichkeit. Dann steht das Jugendamt am Pranger - und das gilt es zu vermeiden. Für Hammer ist das unfassbar. Im Gespräch mit FOCUS Online sagt er: "Was völlig fehlt, ist die Betrachtung der Folgen der Trennung. Es ist indiskutabel, was den Kindern an Schaden zugefügt wird."
Von 42 leben 31 Kinder wieder bei ihren Müttern. Sechs Kinder sind immer noch im Heim, weil ihre Mütter zumindest vorerst den Kampf um die Rückkehr aufgegeben haben. Bei elf Familien gibt es noch offene Verfahren im Jugendamt und Familiengericht.
Dringend Maßnahmen erforderlich
Hammer hofft, dass seine Studie Deutschland und die Politik wachrüttelt. Denn es bedarf dringender Maßnahmen. Es brauche mehr unabhängige Beratungsstellen in den Kommunen. Dafür müsse natürlich Geld in die Hand genommen werden. Und das scheint in Bereichen abseits der Jugendämter tatsächlich am besten investiert zu sein. "Irre ist, dass die Einsparungen der Hilfeleistungen für Familien für einen enormen Kostenanstieg in Heim- und Inobhutnahmen geführt haben", erklärt Hammer. Denn die Unterbringung der Kinder und Jugendlichen kann pro Tag bis zu 150 Euro kosten. "Das System wird immer teurer und inhumaner", urteilt Hammer im Gespräch. "Diejenigen, die damit sparen wollen, sorgen dafür, dass überall die Kosten steigen. Das ist natürlich auch ein strukturelles Problem."
Mit der Angst vor dem Versagen und dem Druck das Richtige zu tun, spielen die Ämter jedoch mit dem Leben der Jüngsten unseres Landes. Auch das Vertrauen der Hilfesuchenden ist damit dahin. Nicht nur die Mütter aus Hammers Studie waren entsetzt von den Entscheidungen der Ämter. Auch ihre Kinder fühlten sich getäuscht.
"Das Schlimme ist, dass solche Institutionen geschaffen wurden, um Eltern und Kinder zu unterstützen - und ihr staatliches Wächteramt der Inobhutnahme nur dann auszuüben, wenn es keine Alternative gibt", sagt Hammer. "Inobhutnahmen aus Angst oder Unsicherheit bewirken aber genau das Gegenteil. Es ist an der Zeit, dass alle Jugendämter wieder zu Orten der Hilfe und Beratung werden, an die Eltern sich vertrauensvoll wenden können."
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